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Das blaue Buch - Roman

Das blaue Buch - Roman

Titel: Das blaue Buch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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nächsten Nachmittag nichts zu tun, und dann auch nur eine kurze Sitzung – bitte sie, mich zu einem Objekt zu führen – klammere meine Finger um ihr Handgelenk, damit sie lauschen können – die Dünnheit alternder Haut: schüchtern, verschwommen, unentschlossen, und dann – hartmetallisch, stolzmetallisch – schlägt eine wilde Entschlossenheit zu. Ich gehe mit ihr, vierteile den Raum, und sie kann nicht anders als mich führen, schreit mit den Knochen, dass wir einen kleinen Tisch ansteuern müssen, auf dem die Armbanduhr ihres Mannes liegt. Wir stolpern beinah, als wir ihn erreichen, weil wir so unbedingt ankommen wollen, und innerlich triumphiert sie, ist sie verzückt, als ich die Uhr in die Hand nehme – oh ja, er hat sie gebeten, an sie zu denken – und sie dann zu mir sprechen lasse – etwas, das ihn jeden Tag berührt hat: Er versteht mein Geschäft besser als ich, er ist sehr stark darin, ein starker Mann – Rückstände von Ralph Lauren Cologne im Leder – sie hat die letzte Flasche aufgehoben, verdunstend, vergehend: inhaliert wahrscheinlich ein bisschen, wenn sie es ertragen, den Schmerz aushalten kann. Kein Sohn, die Uhr zu erben. Kein Kind, irgendwas zu erben. Aber jetzt hat sie mich, und ich kann ihr von Mels erzählen, kann noch jemand sein, der sich an ihn erinnert, ihn kennt.
    Es fühlte sich an, als wären wir einander gerade vorgestellt worden.
    Aber Peri gehörte mir von Anfang an, von den Schuhen an.
    Mehr brauchte es nicht.
    Süße Peri – bückte sich, während ihre Hausangestellte ihr zusah, band meine Schnürsenkel auf, zog mir beide vom Schnee ruinierten Schuhe aus, bat mich herein, ganz herein.
    Sie war ganz und gar bereit.
    Und notwendig – eine wertvolle Beitragszahlerin für meinen eigenen kleinen Sozialstaat des Jenseits – von jedem nach seinen Möglichkeiten – für jeden nach seinem Schmerz.
    Aber es ist trotzdem wie Diebstahl, wie beim Onanieren das Fenster einer Nachbarin zu beobachten, wie die Finger in eine alte Dame zu stecken und sie zu bearbeiten, bis sie bezahlt, bis sie mich jedes Mal will und bezahlt.
    Sie hat mich mit Rosinenkuchen und dem Schal nach Hause geschickt.
    Der Kuchen wird von der stummen und aufmerksamen Imee eingepackt, die nicht viel von mir hält, aber dennoch ein Päckchen bereitet, das zugleich wasserdicht und hübsch ist – das legt sie in eine blaue Papiertüte mit blauen Kordelgriffen von einem Papierwarenladen im Norden Manhattans. In Peris Haushalt wird gespart und der Planet gerettet, indem man Einkaufstüten wiederverwendet, was ganz reizend ist – relativ reizend. Und dann bringt Peri den Schal – neu, Kaschmir, italienisch – eine kleine Aufmerksamkeit, die einmal für Mels Arpagian gedacht war, auch wenn ich das jetzt noch nicht sage – doch ich weiß es zu schätzen, bedanke mich überschwänglich und schiebe dann einen Augenblick ein, wo es mir aufzugehen scheint, Bedeutung erlangt, und ich lasse meine Augen feucht werden, aber kontrolliert. Ich will, dass sie es bemerkt, aber auch kontrolliert bleibt, damit sie unseren Abschied über die Bühne bringt, ohne vollständig auseinanderzubrechen beim Gedanken an Mels – den Mann, mit dem sie dreiundvierzig Jahre zusammengelebt hat und der nach Marx, Engels, Lenin und Stalin benannt war; ein Witz. Mels, der frohgemut den USA ihr eigenes Uran verkaufte. (Und der außerdem Kupfer, Silber und Gold schürfte – diese Metalle vor allem – und noch andere Interessen besaß; er war wirklich breit aufgestellt …) Mels, der den Preis seiner Aktien verteidigte, der nichts dafür zahlen wollte, seine aufgelassenen Bergwerke zu versiegeln, der Wasser kontaminierte, der Navajo-Bergleute vergiftete – und deren Familien – der in Bezug auf die conditio humana eine sonnigere Einstellung hatte als die meisten, der glaubte, wir könnten verdammt noch mal alles verändern oder überleben – ein echter Optimist, der Utah kreuz und quer untergrub. Mels, der gern einen Witz machte.
    Viel Sinn für Humor – eindeutig in vielerlei Hinsicht ein netter Mann – hat mit Kohlsuppe und Frostbeulen angefangen, zu viele Geschwister, ungewollter Nachkomme ungewollter Einwanderer – und er hat nie vollkommen verdrängt, was das bedeutete. Er konnte großzügig sein. Seine Familie war vom Völkermord an den Armeniern betroffen – er konnte Geschichten erzählen, die einen zum Weinen brachten, ihn selbst auch. Er war durchaus sozial engagiert, oft wohltätig – solange die Leute nicht durch eine

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