Das blaue Mädchen
seine Mutter trug ihre Kleider jahrelang, besserte sie aus, wenn sie fadenscheinig wurden, und trug sie weiter. Wie sollte er es da fertig bringen, sich den Luxus einer Dunkelkammer zu leisten? Marlon hatte den Traum in seinem Kopf verschlossen. Er würde nicht wahr werden, jedenfalls nicht in absehbarer Zeit.
Auf dem Flur traf er Stauffer, der mit seiner Aktentasche aus dem Lehrerzimmer kam. Er gab ihm den Schlüssel zurück.
»Sind sie gut geworden?« Stauffer blieb stehen und wartete darauf, dass Marlon ihm die Fotos zeigte.
»Ich hab's furchtbar eilig«, sagte Marlon. »Bin spät dran.« Er hatte Jana ein Versprechen gegeben und daran würde er sich halten.
»So allmählich brauche ich deine Bilder für die Ausstellung.« Stauffer duzte oder siezte die Schüler der Oberstufe nach dem Grad seiner Sympathie. Man sagte ihm nach, er sei ein schwieriger Mensch. Was, dachte Marlon, macht einen schwierigen Menschen aus?
Die Ausstellung war für Weihnachten geplant. Die besten Arbeiten des Fotokurses sollten in der Aula aufgehängt werden. Stauffer bestand darauf, dass die Kursteilnehmer ihre Bilder selbst auswählten und dann eine demokratische Entscheidung trafen.
Sein Blick kehrte zu dem Umschlag in Marlons Hand zurück. »Muss was Besonderes sein, wenn du so ein Geheimnis daraus machst.«
Marlon lachte. »Morgen zeig ich sie Ihnen«, versprach er.
Damit war Stauffer zufrieden. Er klopfte Marlon freundschaftlich auf die Schulter und eilte davon. Marlon sah ihm nach. Er würde ihm einfach andere Fotos zeigen. Stauffer kannte längst noch nicht alle.
Der Roller röhrte, als wäre er kurz vorm Zerreißen. Marlon sparte für den Autoführerschein. Er freute sich darauf, achtzehn zu werden und endlich Auto fahren zu können. Vielleicht würde er später auch den Führerschein fürs Motorrad machen, sich eine alte Maschine anschaffen und sie aufpolieren.
Später. Wenn es eine Meisterschaft im Aufschieben von Träumen gäbe, würde er sie gewinnen.
Jana war in der Ausleihe beschäftigt. Gertrud saß an ihrem Schreibtisch und studierte die Kataloge mit den Neuerscheinungen. Sobald sie geschlossen hätten, würde sie mit Jana besprechen, welche Bücher sie bestellen würden.
Im Grunde war Gertrud für die Anschaffungen allein verantwortlich. Doch sie schätzte Janas Urteil und bezog sie in ihre Überlegungen mit ein. Die Meinung der Bibliothekskommission interessierte sie weniger, aber sie kam nicht darum herum, die Bestellungen von ihr bestätigen zu lassen.
Es gab Bücher, die auf dem Index standen, die Werke von Henry Miller zum Beispiel oder die von D. H. Lawrence, die Bücher von Charles Bukowski und die von Stephen King. Es gab keine Horrorgeschichten, keine Pornografie und keine erotische Literatur, keine Comics und keine Kassetten oder CDs. Bestimmte religiöse und philosophische Werke waren verboten und viele historische auch.
»Ein Glück, dass heutzutage so viel publiziert wird«, hatte Gertrud erst vor kurzem mit einem Zynismus gesagt, der ihr sonst fremd war, »sonst wären unsere Regale leer.« Sie war gegen jede Form von Zensur. »Das ist nicht Schutz vor schädlichen Einflüssen, das ist Diktatur. Kann ich Erwachsenen nicht ein eigenes Urteilsvermögen zugestehen? Die Freiheit, sich für oder gegen etwas zu entscheiden?«
Die einzige Freiheit, die es gibt, finden wir in der Mondheit.
»Ich habe damals doch auch eine Entscheidung getroffen. Es war mein eigener Entschluss, zu den Kindern des Mondes zu kommen. Und ich finde noch immer, dass es so viel Positives bei uns gibt, dass es sich für mich lohnt, die negativen Begleiterscheinungen auszuhalten.« Gertrud sah Jana listig an. »Aber glaub nur ja nicht, dass meine Entscheidungen für alle Ewigkeit gelten. Jedes Lebewesen befindet sich in einem fortwährenden Prozess der Veränderung und man muss seine Position von Zeit zu Zeit überdenken.«
Die Entscheidung für die Mondheit ist eine Entscheidung für das ganze Leben und das Leben danach
»Aber La Lune sagt doch...«
»Ich weiß. Und eine Querdenkerin wie ich ist gar nicht gut für dich.«
Jana hatte einmal gehört, Gertrud sei zu den Kindern des Mondes gekommen, nachdem sie ihre Tochter verloren hatte. Sie sollte an Drogen gestorben sein. Gertrud sprach nie über ihr früheres Leben. Als hätte sie es mit einem kräftigen Schnitt von sich abgetrennt.
»Das Negative...«, sagte Jana.
»...ist das Strafhaus, ist die Büchereikommission, ist die Überwachung der Träume und Gedanken. Ich
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