Das blaue Mädchen
will das gar nicht alles aufzählen. Aber bedenke auch die anderen Seiten: eine Gemeinschaft ohne Hass, Eifersüchteleien und Intrigen. Ein gemeinsames Ziel. Ein Glaube, Jana. Und Liebe.«
»Wenn sie nicht zur falschen Zeit kommt«, sagte Jana bitter.
Gertrud nahm die Brille ab und seufzte. »Erwarte von mir keine Weisheit, Jana. Ich habe selbst tausend Fragen, die auf eine Antwort warten.«
An dieses Gespräch dachte Jana, während sie die Ausleihkarten abstempelte. Gertrud an ihrem Schreibtisch im Nebenraum, dessen Tür wie immer weit offen stand, las und machte sich Notizen. Ihre Gestalt strahlte Ruhe, Kraft und Zuversicht aus.
Noch eine halbe Stunde, dann würden sie reden können. Jana kämpfte gegen das Bedürfnis an, Gertrud von Marlon zu erzählen. Dass sie es bisher noch nicht getan hatte, lag nicht daran, dass sie sich selbst schützen wollte. Sie wollte Gertrud nicht mit Geheimnissen belasten, die gefährlich waren.
Es gab auch so genug zu besprechen. Morgen würde Mara aus dem Strafhaus entlassen und Jana fragte sich, wie sie die Stunden bis dahin aushalten sollte.
Karen hatte Mara das Gewand auf den Tisch gelegt und war wieder gegangen. Mara hatte ihr nicht nachgeschaut, diesmal nicht. Hatte nicht die verschlossene Tür angestarrt, sondern das Gewand, das frisch gewaschen und vorschriftsmäßig gefaltet vor ihr lag. Es war ein Zeichen. Ihre Entlassung stand bevor.
Hatte es darüber hinaus eine besondere Bedeutung? Würde es eine Versammlung geben? Nein, die gab es in solchen Fällen nie. War es vielleicht einfach so, dass Mara das Strafhaus verlassen sollte, wie sie es betreten hatte?
Warum freue ich mich nicht?, dachte Mara. Ich habe doch so lange darauf gewartet.
Sie würde wieder mit Jana reden können. Und lachen. Sie würde wieder andere Stimmen hören als ihre eigene.
Und Timon sehen.
Ihre Haut sehnte sich nach seinen Berührungen. Sie würden vorsichtig sein müssen, noch viel vorsichtiger als zuvor. Dass sie aufeinander verzichten würden, war Mara nicht ein einziges Mal in den Sinn gekommen.
Sie würde mit ihm in die Kirche gehen und sie würden eine Kerze anzünden. Ob es erlaubt war, sich dort zu küssen? Bestimmt. Der Pfarrer hatte ihr doch erklärt, sein Gott sei ein Gott der Liebe.
Wie war es, Timon zu küssen? Wie fühlten sich seine Haare an? Ihre Lippen und ihre Finger würden alles neu erkunden müssen.
Sie kauerte sich auf den Boden und fing an zu summen. Ihr Oberkörper bewegte sich langsam vor und zurück.
Marlon verteilte die Fotos auf dem Bett, dem Schreibtisch und dem Boden. Er wusste noch genau, in welcher Reihenfolge er sie gemacht hatte. Und er sah jetzt, wie Janas anfängliche Schüchternheit von Aufnahme zu Aufnahme schwand. Er wusste auch noch, wann sie zum ersten Mal richtig gelacht hatte.
Wieder hatte sie sich ängstlich umgesehen. »Wir dürfen nicht mit dir sprechen«, hatte sie Miris Worte leise wiederholt.
»Wir sprechen ja gar nicht«, hatte Marlon ebenso leise geantwortet. »Wir flüstern doch nur.«
»Wer flüstert, der lügt«, hatte Miri geflüstert.
Und da hatte Jana den Kopf in den Nacken gelegt und gelacht, so fröhlich und ansteckend, dass Marlon gerade noch auf den Auslöser drücken konnte, bevor das Bild verwackelte.
»Marlon?«
Er hatte die Mutter nicht kommen hören und fuhr beim Klang ihrer Stimme zusammen. Hastig begann er, die Fotos aufzusammeln. »Was ist?«
Sie ging in die Hocke und schaute sich die Fotos an, die auf dem Boden lagen. Dann hob sie ungläubig den Kopf.
»Ja«, sagte er unwirsch. »Es sind Mädchen aus der Sekte.«
Sie nahm einige der Fotos in die Hand. »Das kleine Mädchen kommt nicht so oft darauf vor.«
»Mama, du interessierst dich doch gar nicht für meine Fotos.«
»Ich interessiere mich für dich. Wer ist dieses Mädchen, Marlon?« Sie gab ihm die Fotos, die sie in der Hand hielt, und er schob sie mit den anderen zusammen in die Schreibtischschublade.
»Sie heißt Jana und gehört zu den Kindern des Mondes. Sonst noch was?«
»Das wüsste ich gern von dir, mein Junge.«
»Seit wann schnüffelst du mir nach, Mama?«
Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich möchte dich nicht verlieren, Marlon.«
»Wovon, zum Teufel, redest du?«
»Davon, dass du dich in das falsche Mädchen verliebt hast.«
»Dass ich...«
»Sie werden sie nicht gehen lassen, Marlon.«
Es hatte keinen Zweck mehr, so zu tun, als wüsste er nicht, wovon seine Mutter sprach. Vielleicht konnte er sie wenigstens beruhigen. Aber
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