Das blaue Mädchen
was sollte er sagen? Mach dir keine Sorgen, Mama, ich kriege das schon irgendwie hin?
Sie kam zu ihm und nahm seinen Kopf in beide Hände. »Versprichst du mir, dass du vorsichtig bist? Dass... ihr vorsichtig seid?«
Marlon nickte und ging hinaus. Es war Zeit, zum Melken zu fahren. Erst auf dem Hof fiel ihm ein, dass er sie gar nicht gefragt hatte, warum sie überhaupt in sein Zimmer gekommen war.
Gertrud zauberte Orangenplätzchen und runde Kekse mit Schokoladesplittern aus den Tiefen der Schränke hervor und füllte sie in eine Schale, die sie auf den Tisch stellte. Die friedliche kleine Küche duftete nach einem kräftigen Earl Grey.
»Ab und zu muss man sich ein bisschen belohnen, findest du nicht?« Gertrud setzte sich Jana gegenüber und biss in einen Keks. Krümel spritzten über den Tisch.
Der Tee hatte genau die richtige Farbe. Er war goldgelb und dampfte in den Tassen.
»Ich glaube, ich habe mich verliebt«, sagte Jana leise.
Gertrud hörte auf zu kauen.
»In einen Jungen von draußen.«
Der angebissene Keks zerbrach Gertrud zwischen den Fingern.
»Entschuldige. Ich hatte nicht vor, dich da mit reinzuziehen. Es ist nur... ich hab sonst keinen zum Reden, nur dich und Mara. Und ich weiß nicht, ob Mara...«
»Schon in Ordnung.« Gertrud schob die Keksstücke und die Krümel auf dem Tisch zu einem Häufchen zusammen. Dann sah sie auf. »Willst du mir mehr erzählen?«
»Ich habe ihn im Wald getroffen. Zufällig. Aber natürlich werde ich ihn nicht wieder sehen.«
»Natürlich nicht.«
»Er hat mich fotografiert.« Und wir haben gelacht, dachte Jana. Er hat einen schief stehenden Schneidezahn und dafür hatte ich ihn gleich noch ein bisschen lieber. Und wenn ich ihn nicht wieder sehe, werde ich verrückt.
»Ist das dieser Junge, der immer auf seinem Roller durchs Dorf fährt?«, fragte Gertrud.
Jana nickte. »Er heißt Marlon.«
»Marlon.« Gertrud fischte ein aufgeweichtes Stück Keks aus ihrem Tee. »Ich habe ihn schon oft mit seiner Kamera gesehen.«
»Er wird die Fotos niemandem zeigen«, sagte Jana. »Das hat er Miri und mir versprochen.«
»Miri?« Erschrocken sah Gertrud auf.
»Sie war dabei«, sagte Jana. »Aber sie verrät nichts.«
»Bist du sicher? Miri ist fünf!«
»Aber sie ist etwas ganz Besonderes.«
»Das stimmt allerdings.«
Gertrud schüttete den abgekühlten Tee in den Ausguss und goss frischen in die Tassen. Sie tranken und sahen sich an.
»Erwartest du einen Rat von mir, Jana?«
»Nein. Nur, dass du mir verzeihst. Ich hätte es für mich behalten sollen.«
Gertrud verzog in gespielter Empörung das Gesicht. »Traust du mir nicht einmal zu, ein Geheimnis zu bewahren?« Dann wurde sie wieder ernst. »Ich gebe dir trotzdem einen Rat, Jana. Hör auf dein Herz. Und sei vorsichtig. Und wenn du mich brauchen solltest – ich bin immer für dich da.«
»Das waren gleich zwei Ratschläge«, sagte Jana.
»Die du beide befolgen solltest.« Gertrud zog ihre Notizen und die Kataloge der Neuerscheinungen heran. »Du darfst dich jetzt revanchieren.«
Ihre Arbeit wurde vom Gongschlag unterbrochen und sie gingen zum Speisesaal hinüber. Obwohl die Abendsonne nur noch wenig Kraft hatte, waren die Vorhänge vor den hohen Fenstern halb zugezogen. Alles schließen sie aus, dachte Jana, sogar das Licht. Haben sie Angst, zu viel zu sehen?
Timon saß schon auf seinem Platz. Er hatte sich heute lange in der Bibliothek aufgehalten. An einem der Tische sitzend, hatte er gelesen und gegrübelt und ins Leere geschaut und für nichts Augen gehabt.
Er kam oft und lieh jedes Mal einen Stapel geografischer Bücher aus.
Von Mara wusste Jana, dass er sich sehr für das Leben in fremden Ländern interessierte. Dass er es liebte, die phantastischsten Touren zu entwerfen. Manchmal hatte er Mara aus diesen Büchern vorgelesen und sie waren in Gedanken gemeinsam durch Indien gereist, hatten Peru besucht und die Karibischen Inseln.
Auch heute hatte er Jana einen hohen Stapel hingeschoben und sie hatte die Karten abgestempelt. Dabei fühlte sie seinen Blick. Es war ihr unangenehm. Das letzte Buch war ein Band mit Liebesgedichten. Das gab ihr den Rest.
»Weißt du, dass Mara morgen entlassen wird?«, fragte sie ihn mit gedämpfter Stimme.
»Ja«, sagte er.
Sie sah zu ihm auf. Seinem Gesichtsausdruck war nichts zu entnehmen. Eine Maske aus Stein. Als hätten sie alle Gefühle daraus weggemeißelt.
Wenn sie ihn umgedreht haben, dachte Jana, dann haben sie ganze Arbeit geleistet. Und dann hat
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