Das blaue Mädchen
vertreiben, indem sie Geräusche machte, redete oder sang, doch danach war die Stille nur umso dichter.
Sie war anders als in der Kirche. Dort hatte sie Mara nie bedroht.
Die Mondtage, dachte Mara, sind besonders lang. Die Mondtage haben... sie war plötzlich hellwach. Wenn sie sich daran erinnern könnte, wie viele Mondtage sie schon hier verbracht hatte, dann könnte sie doch die Zeit ausrechnen.
Angestrengt überlegte sie. Warf die Decke ab, lief hin und her. Wie oft hatte sie das Läuten der Kirchenglocken gehört?
Sie war sich ganz sicher, dass es heute das vierte Mal war.
Sicher?
Sie presste die Hände an die Stirn. Wie oft hatten die Glocken geläutet? Wie oft?
Wenn es heute wirklich das vierte Mal war, dann würde sie in drei oder vier Tagen entlassen. Sie begann wieder zu zittern, heftig und unbeherrscht, diesmal nicht wegen der inneren Kälte. Ob sie in drei oder vier Tagen entlassen würde oder eine Woche später, darauf kam es eigentlich nicht an. Sie hatte es geschafft, nicht verrückt zu werden. Hatte nicht gewinselt und gebettelt. Und sie hatte La Lunes Buch nicht angetastet.
Ein Sonnenstrahl stahl sich durch das Fenster und warf das Muster der Gitterstäbe auf die weiße Wand. Kreuze. Das Symbol des Gottes der Menschen draußen, den Mara genauso wenig verstand wie die Mondheit.
Nicht mehr lange und sie würde Timon wieder sehen.
Sie erschrak. Würde sie ihn wirklich wieder sehen?
Mara kroch auf das Bett zurück und wickelte sich wieder in die Decke.
Bald würde sie es wissen.
»Marlon«, sagte Miri und strahlte ihn an.
»Hallo, Miri.« Marlon wunderte sich darüber, dass er überhaupt einen Ton herausbrachte.
»Jana! Komm!«, rief Miri. »Das ist Marlon!« Sie betrachtete die Kamera in seinen Händen. »Kannst du damit Bilder machen?«
Marlon nickte. Jana hieß sie also. Jana. Das klang warm und weich und merkwürdig vertraut.
»Auch von mir? Und von Jana?«
»Wenn du das möchtest.« Marlon sah Jana an, die langsam zu ihnen herüberkam. Sie war noch schöner, als er gedacht hatte.
Zögernd legte sie Miri die Hand auf die Schulter. »Miri, wir dürfen nicht...«
»Wir dürfen nicht mit dir sprechen«, sagte Miri.
»Warum nicht?«
»Weil...« Miri steckte einen Finger in den Mund und kaute ratlos darauf herum.
»Es ist gegen die Regeln.« Jana hielt den Kopf gesenkt und sprach so leise, dass Marlon sich vorbeugen musste, um sie zu verstehen. Die Sonne spielte auf ihrem Haar und ließ es silbrig glänzen.
»Verstehe.« Marlons Herz klopfte wie nach einem Hundertmeterlauf.
»Es ist Zeit, Miri.«
»Jetzt schon?« Miri schlang die Arme um Jana. »Marlon will doch ein Bild von uns machen.«
Jana hob den Kopf und sah Marlon an. Ihre Augen waren tatsächlich blau, die Wimpern lang und dunkel. Ihre Haut war leicht gebräunt. Marlon hätte gern ihr Haar berührt. Er schlug nach einer Fliege. »Darf ich?«
Er hielt ihr die Kamera hin, wie um zu beweisen, dass sie harmlos war und ihr nicht wehtun würde.
»Ja«, sagte Miri ungeduldig. »Ja! Mach!«
Und da lächelte Jana und Marlon fing dieses Lächeln mit der Kamera ein, zuerst behutsam und sacht, dann immer schneller, wie in einem Rausch.
9
Er heißt Marlon. Und Miri hat es die ganze Zeit gewusst! Der Name passt zu seinen dunklen Augen und dem dunklen Haar, aber auch zu seiner Stimme. Und zu seinem Lächeln.
Meistens war es hinter der Kamera versteckt, aber ich habe es trotzdem gesehen. Und wenn ich die Augen zumache, ist es immer noch da.
Marlon verließ die Dunkelkammer und schloss die Tür ab. Die Teilnehmer des Fotokurses durften auch außerhalb der Unterrichtszeit darin arbeiten. Stauffer gab ihnen den Schlüssel und ließ sie in Ruhe. Er schien die meiste Zeit in der Schule zu verbringen, als ob er kein Privatleben hätte. Marlon konnte sich schwach daran erinnern, dass Stauffer früher ein Problem mit Alkohol hatte, eine Weile aus dem Schulleben verschwunden und dann vor einigen Jahren zurückgekehrt war, ein völlig verwandelter Mensch mit einer empfindlichen, nervösen Energie.
Schon oft hatte Marlon über eine eigene Dunkelkammer nachgedacht. Im Stall könnte man leicht einen kleinen Raum abtrennen. Aber für den Umbau und die Einrichtung wäre Geld nötig, viel mehr, als er besaß. Marsilio jobbte in einem Supermarkt, Tim bei einem Pizzaservice, doch Marlon war zu Hause eingespannt. Seine Eltern rechneten mit ihm, einen zusätzlichen Job konnte er sich abschminken.
Und selbst wenn er nebenher Geld verdiente –
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