Das blaue Mädchen
auch er gelitten. Eine Spur von Mitleid stieg in ihr auf. Und eine schreckliche Ahnung, dass vielleicht auch Mara so zurückkommen würde, mit einer Maske vor dem Gesicht, so dicht, dass sie nicht mehr davon zu trennen wäre.
Auf dem Hof der Tischlerei neulich hatte Timon versucht, mit Jana zu reden, und sie hatte es nicht zugelassen. Dazu hatte sie kein Recht gehabt. Sie hätte sich wenigstens anhören müssen, was er zu sagen hatte.
Vielleicht war es noch nicht zu spät.
»Timon...«, begann sie.
Bröckelte die Maske? Seine Mundwinkel zuckten. Er sah ihr direkt in die Augen. Doch da kam Gerald, der in der Auslieferung der Tischlerei arbeitete. Ein überaus seltener Gast. Jana hatte ihn zwei-, höchstens dreimal hier gesehen.
»Na, Timon«, sagte Gerald, »wieder Lesefutter für Wochen ausgeliehen?«
Timon lächelte und packte seine Bücher zusammen.
»Warte doch auf mich«, sagte Gerald. »Dann können wir zusammen gehen.«
Sie waren hinausgegangen, Gerald redend, Timon schweigend.
Jetzt fragte Jana sich, ob Geralds Erscheinen in der Bibliothek ein Zufall war. Vielleicht sollte er ein Auge auf Timon haben. Vielleicht wollte man Timons Kontakt zu Jana kontrollieren, denn der Kontakt zu ihr bedeutete auf Umwegen Kontakt zu Mara.
Nach dem Essen pflückte Jana einen Strauß Wiesenblumen. Sie stellte ihn in der schönsten Vase, die sie in der Geschirrkammer hatte auftreiben können, auf den Tisch in ihrem Zimmer und betrachtete ihn zufrieden. Mara würde sich darüber freuen.
Mara konnte sehr gut zeichnen. All diese Blumen hatte sie schon aufs Papier gebracht, so üppig und verschwenderisch, dass man beim Anschauen meinte, ihren Duft in der Nase zu haben. Ob man ihr im Strafhaus erlaubt hatte zu zeichnen?
Bis zum Abendgespräch war noch ein wenig Zeit. Jana holte ihr Tagebuch hervor und fing an zu schreiben.
Mara war aus einem Traum aufgewacht. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie hatte aus dem Strafhaus weglaufen wollen und war bis zum Ende des Dorfes gekommen, als ihre Schritte immer langsamer wurden. Es hatte sie eine beinah unerträgliche Anstrengung gekostet, die Füße zu heben, die in etwas feststeckten, das wie Klebstoff war. Hinter sich hatte sie die schnellen Schritte ihrer Verfolger gehört.
Dann war sie aufgewacht, gerade rechtzeitig.
»Es war bloß ein Traum«, murmelte sie. »Bloß ein Traum.«
Ihre Zähne klapperten aufeinander wie bei einem Schüttelfrost. Mondlicht floss ins Zimmer und es war kalt. Mara stellte sich vor, die Sonne schiene. Sie versuchte, sich an die Wärme des Tages zu erinnern und an den wandernden Sonnenfleck auf der Wand.
Der Traum zeigte ihr, dass eine Flucht sinnlos war, von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Sie hatte wieder Sehnsucht nach ihrer Mutter. Nach irgendeiner Mutter. Waren Mütter nicht dazu da, ihre Kinder zu beschützen? Sie zu trösten, wenn sie Trost brauchten? Sie zu pflegen, wenn sie krank waren? Ihnen Mut zu machen, wenn sie Angst hatten?
Die Kinderfrauen waren in ihrer allumfassenden Liebe immer kühl geblieben. Ihre Umarmungen waren austauschbar gewesen.
Und was war mit der allumfassenden Liebe der Gesetzesfrauen? Sie beteten mit Mara, sie beteten sogar für sie. Um Vergebung. Aber konnten sie selbst vergeben?
Rituale, dachte Mara. Rituale von Liebe, Vergebung und Menschlichkeit. Das Leben bei den Kindern des Mondes ist ein Puppenspiel mit Figuren aus Fleisch und Blut. Der Kasper ist der Kasper, die Hexe ist die Hexe, das Krokodil ist das Krokodil.
Und La Lune zieht die Fäden.
Von der Freude auf den kommenden Tag war nicht viel übrig geblieben. Mara ahnte, dass ihre Entlassung nicht endgültig war. Das Spiel würde weitergehen und es machte ihr Angst, dass sie nicht wusste, wie.
»Schlaf jetzt«, sagte sie. »Mach die Augen zu. Der Traum ist vorbei. Er wird nicht wiederkommen.«
Aber sie wusste, dass er nicht vorbei war. Und dass er Wirklichkeit werden konnte. Die Verfolger waren ihr auf den Fersen.
10
Jana hatte schon beim Morgengebet und beim Frühstück insgeheim nach Mara Ausschau gehalten. Es würde keine förmliche Rückkehr geben, die gab es bei denen, die im Strafhaus gewesen waren, nie. Sie tauchten einfach wieder auf, still und leise, fast so, als wären sie nie weg gewesen.
Keiner von ihnen sprach über die Zeit, die sie außerhalb der Gemeinschaft verbracht hatten, und der Ausdruck auf ihren Gesichtern blieb noch lange danach abweisend und verschlossen.
Der Vormittag in der Schule verging quälend langsam.
Weitere Kostenlose Bücher