Das blaue Mädchen
Jana versuchte sich immer wieder vorzustellen, was Mara wohl gerade tat. War sie schon wieder in ihrem Zimmer? Beugte sie sich über die Blumen, um ihren Duft einzuatmen? Hatte sie ein Gespräch mit La Lune?
Nach der letzten Stunde blieb Jana in der Klasse, um Nachhilfeunterricht zu geben. Gute Schüler waren verpflichtet, schwächeren unter die Arme zu greifen.
Von jedem Zuviel geben Kinder des Mondes denen ab, die zu wenig haben.
Das war eine gute Sache und es machte Jana Spaß, mit anderen zu arbeiten. In diesem Schulhalbjahr war sie für Sonja zuständig. Sonja hatte Probleme in Deutsch. Vor allem das kreative Schreiben bereitete ihr Schwierigkeiten.
Sie behauptete, keine Phantasie zu haben.
»Deshalb bin ich in Mathe so gut«, sagte sie. »Ich brauche Formeln und Gesetze, an die ich mich halten kann.«
Jana glaubte nicht daran, dass es phantasielose Menschen gab.
»Es gibt höchstens Menschen, die ihrer Phantasie nicht trauen«, widersprach sie.
Nach den ersten vergeblichen Versuchen, Sonja zum Schreiben zu bringen, war ihr der Gedanke gekommen, dass Sonja sich vor ihrer Phantasie regelrecht zu fürchten schien.
»Schließ die Augen«, sagte Jana. »Und dann warte einfach auf das, was kommt.«
Gehorsam schloss Sonja die Augen. Doch nach ein paar Sekunden riss sie sie wieder auf.
»Ich kann das nicht, Jana.«
Die Fenster waren weit geöffnet. Kinderlachen wehte herein.
»Wovor hast du Angst, Sonja?«
Der Mut der Mondheit trägt die Kinder des Mondes.
»Davor, dass ich die Kontrolle verliere«, sagte Sonja leise. Sie sah Jana flehend an.
»Schon gut.« Jana hielt diesen Blick kaum aus. »Ich behalte es für mich.«
Sie musste nach jeder Nachhilfestunde ein Protokoll anfertigen und es bei Reesa abliefern. Reesa besprach es zuerst mit Jana und danach in der Lehrerkonferenz.
Dass jemand darauf bestand, die Kontrolle über sich zu behalten, wäre Grund für eine ausführliche Befragung. Nur La Lune und dem engsten Kreis stand es zu, Kontrolle auszuüben. Sie taten das zum Wohl der Kinder des Mondes und die hatten sich vertrauensvoll ihrer Kontrolle zu unterwerfen.
Jana erschrak über ihre Gedanken. Sie hatte diese Dinge nie in Frage gestellt, hatte alles hingenommen, sich wohl gefühlt in dem Bewusstsein, dass sie von La Lune und dem engsten Kreis, den Kinderfrauen und später den Lehrerinnen beschützt wurde.
Maras Verbannung ins Strafhaus, Timons sonderbare Wandlung und das Zusammentreffen mit Marlon hatten ihre Gewissheiten ins Wanken gebracht. Sie konnte das Wort
Schutz
nicht mehr denken, ohne dass im Hintergrund das Wort
Kontrolle
auftauchte.
Sie schob ihre Gedanken weg. Es war Zeit, sich eine andere Methode für Sonja auszudenken, eine, bei der sie sich sicher fühlen konnte.
»Versuchen wir es mit Assoziation«, sagte sie. »Ich nenne dir einen Begriff und du schreibst auf, was dir dazu einfällt. Einverstanden?«
Sonja nickte.
»Ferien«, sagte Jana.
Sonja überlegte, dann schrieb sie.
Sonne. Wärme. Zeit haben. Ausruhen. Keine Schule. Andere Arbeiten. Sommer. Vorbei.
»Und jetzt«, sagte Jana, »überlegen wir, wie wir aus diesen Eckpfeilern einen Text zaubern können.«
»Jana?«
»Ja?«
»Danke.«
La Lune saß am Kopfende des langen Tisches, die Mitglieder des engsten Kreises hatten sich auf den Stühlen niedergelassen, die an den Längsseiten aufgestellt waren. Elsbeth und Karen hatten Mara in den Raum geführt und waren still wieder hinausgegangen.
In der Frühe hatten sie von ihr verlangt, das Gewand anzuziehen. Die übrige Kleidung wollten sie in Maras Zimmer schaffen lassen.
Das Gewand. Mara hatte es angesehen und plötzlich war es ihr zuwider gewesen. Sie hatten ihr verwehrt, es im Strafhaus zu tragen, als wäre es heilig und Mara könne es entweihen. Und nun bestanden sie darauf, dass sie es anzog?
Aber dann hatte sie sich doch nicht dagegen gewehrt. Wenn das Gewand der Schlüssel nach draußen war, wollte sie nicht so dumm sein, es sich mit Elsbeth und Karen zu verscherzen.
Der kurze Gang hierher, die frische Luft, die Sonne und das Gezwitscher der Vögel hatten die Lethargie der vergangenen Tage von Mara abfallen lassen. Sie hatte den Wind auf dem Gesicht und im Haar gespürt und sich wieder ein bisschen lebendiger gefühlt. Als wäre sie lange krank gewesen und nun auf dem Weg, wieder gesund zu werden.
Fünf Frauen und fünf Männer, das war der engste Kreis. Mara hatte bisher nicht viel mit ihnen zu tun gehabt. Sie wünschte, das wäre so geblieben.
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