Das blaue Mädchen
hast du dich auch noch in ihn verliebt.
Nur die Bekehrer durften mit den Leuten von draußen sprechen. Sie mussten es sogar, denn ihre Aufgabe bestand darin, möglichst viele von den Idealen der Kinder des Mondes zu überzeugen und die Gemeinschaft zu vergrößern.
Die Bekehrer wurden für ihre Arbeit sorgfältig ausgewählt und geschult. Sie lebten in zwei eigenen Gebäuden, nach Geschlechtern getrennt, wie es bei den unvermählten Kindern des Mondes üblich war.
Warum Bekehrer nicht vermählt wurden, wusste Jana nicht, aber sie konnte es sich denken. Bekehrer hatten sich der heiligen Sache verschrieben. Nichts und niemand sollte sie davon ablenken.
Die meiste Zeit des Jahres verbrachten sie außerhalb der Gemeinschaft, kamen immer nur für einige Wochen zurück. Sie waren Reisende der Mondheit, die die Wahrheit über das Land verbreiten sollten. Bei einer ihrer letzten Reden hatte La Lune angekündigt, dass sie die Bekehrer auch ins Ausland schicken werde, sobald die Zeit dafür gekommen sei.
»Es wird nicht mehr lange dauern«, hatte sie gesagt, »und wir werden die ganze Welt überschwemmen.«
Ihre Wortwahl hatte Jana irritiert. War eine Überschwemmung nicht eine Katastrophe? Wie konnte man die Welt mit der Botschaft von Liebe und Frieden
überschwemmen
?
Wer kein Bekehrer war, durfte den Gruß eines Dorfbewohners erwidern, um der überall spürbaren Feindseligkeit keine neue Nahrung zu geben, aber mehr war nicht erlaubt.
Jana ging langsam weiter. Es war viel zu spät für solche Überlegungen. Sie hatte sich doch längst entschieden.
Sie stolperte über eine bloßliegende Wurzel, die sich quer über den Weg zog.
War da ein Kichern?
Oder waren ihre Nerven so strapaziert, dass sie anfing, Gespenster zu hören?
Sie begann zu rennen. Der schnelle Wechsel von Licht und Schatten blendete sie und machte sie schwindlig.
Sie konnte immer noch umkehren. Wieder nach Hause gehen.
Nach Hause.
Wo war das?
Der Hund knurrte. Er setzte sich auf und starrte geradeaus. Marlon kniff die Augen zusammen, aber er konnte nichts erkennen.
»Ruhig«, sagte er zu dem Hund. »Ich will nicht, dass du sie erschreckst.«
Er hörte jetzt ihre Schritte, hastig, als wäre sie vor etwas oder jemandem auf der Flucht. Und dann kam sie auf die Lichtung gelaufen, blieb stehen und sah sich suchend um.
Marlon nahm den Hund am Halsband und trat ein paar Schritte vor.
Eine Weile standen sie so und sahen sich an.
Dann riss der Hund sich los und lief schwanzwedelnd auf Jana zu. Sie ging in die Hocke und streichelte ihn. Wie eine Katze rieb er den Kopf an ihrem Arm.
Verwirrt war Marlon dem Hund gefolgt.
»Du brauchst keine Angst vor ihm zu haben«, sagte er unnötigerweise, denn vor dem Hund hatte Jana ganz offensichtlich keine Angst. Sie kraulte ihn hinter den Ohren. Der Hund seufzte vor Wohlbehagen.
Jana hatte vor etwas anderem Angst. Sie horchte.
»Er ist schon sehr alt«, sagte Marlon. »Aber er ist immer noch wachsam. Wenn jemand in unsere Nähe kommen sollte, werden wir es merken.«
Trotzdem zogen sie sich in den Schutz der Bäume zurück. Jana setzte sich ins Moos und der Hund rollte sich neben ihr zusammen.
Marlon sah, dass sie schöne Hände hatte, klein und schmal, die Nägel kurz geschnitten. Sie trug keinen Schmuck, nicht einmal eine Armbanduhr. Nur die Kette mit dem silbernen Mond.
Sie sah zu ihm auf und lächelte.
»Willst du dich nicht zu uns setzen?«
Schon beim ersten Mal hatten ihr Lächeln und dann ihre Stimme ihn staunen lassen. Als hätte er noch nie in seinem Leben jemanden lächeln sehen oder reden hören.
»Sieh mich bitte nicht so an«, sagte sie.
Er setzte sich und richtete den Blick auf den Hund, der friedlich neben ihr döste, eng an sie geschmiegt. Er war im Alter wählerisch geworden, was seinen Umgang mit Menschen anging, und auch ein bisschen eigen. Es war ungewöhnlich, dass er so schnell Zutrauen zu einer Fremden fasste.
»Er mag dich.« Marlon wagte es, Jana wieder anzusehen. »Man sollte meinen, er kennt dich schon ewig.«
»Das tut er auch. Wir kennen uns, seit ich ein kleines Mädchen war.«
»Was?«
Sie lachte über seine Verblüffung.
»Er ist uns regelmäßig besuchen gekommen. Aber in letzter Zeit nicht mehr. Ich habe mir schon Sorgen um ihn gemacht.«
»Du meinst, mein Hund hat... dich besucht?«
»Ich habe nicht gewusst, dass er zu dir gehört. Ich hatte immer gehofft, er würde irgendwann bei uns bleiben.« Ihre Stimme wurde ganz leise. »Aber jetzt weiß ich, warum er
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