Das blaue Mädchen
denn zu einem Gespräch zwischen den beiden war es nicht mehr gekommen.
Jana war damit beschäftigt, die Spülmaschine einzuräumen. Ihre Bewegungen wirkten beherrscht. Als müsse sie sich bei jedem Handgriff konzentrieren.
Seit La Lune die Spülmaschine angeschafft hatte, benötigten sie für den Küchendienst viel weniger Zeit. Es mussten auch nicht mehr so viele dafür eingeteilt werden. Heute waren es nur Mara, Jana, Gerald und Tom.
Mara sah Gerald heimlich von der Seite an. Timon hatte ihr erzählt, dass er glaubte, von ihm überwacht zu werden. Wenn es so war, ließ er sich nichts anmerken. Lässig räumte er auf und scherzte mit Tom, einem Jungen, der hauptsächlich in der Kleiderkammer arbeitete, wo die Kleidung der Kinder des Mondes angefertigt wurde, aber auch die Kleidung, die für den Verkauf bestimmt war.
Für Gerald und Tom waren schon Partnerinnen ausgesucht worden. Sie gaben nicht zu erkennen, ob sie damit glücklich waren oder nicht. Beide strahlten Zufriedenheit aus, wie das die meisten Kinder des Mondes taten.
Zufriedenheit und Bescheidenheit sind die Grundpfeiler des Glücks.
Mara hatte sich ihr Leben lang vergeblich darum bemüht. Wie sollte sie mit einem Leben zufrieden sein, das von allen Seiten eingezäunt war? Wenn sie schon nicht über diese Zäune klettern konnte, versuchte sie doch wenigstens, einen Blick hinüberzuwerfen.
Und die Bescheidenheit?
Mara hatte immer alles gewollt oder nichts. Es gab Dinge, die reduziert nicht denkbar waren. Freiheit. Freundschaft. Liebe.
Was sollte das sein, ein bisschen Freiheit? Ein bisschen Freundschaft?
Und Liebe?
Liebe ist geistiges Einssein.
Mit dem von La Lune ausgewählten Partner. Nach einer von La Lune bestimmten Zeit. Nach von La Lune festgelegten Regeln.
Die Liebe der Einzelnen mündet in die Liebe zu allen.
Als Kind hatte Mara sich das vorstellen können. Es war ein schönes Bild. Aber zuallererst musste man fähig sein, alle Kinder des Mondes zu mögen. Und das war schwer.
Sie gipfelt in der allumfassenden Liebe zur Mondheit.
Es klang so einfach, so klar. Aber wie konnte man etwas lieben, das man fürchtete?
Nacht für Nacht war Mara früher aus Albträumen hochgeschreckt, in denen die Mondheit sich wie ein Berg vor ihr aufgerichtet hatte. Groß und gewaltig, dunkel und drohend.
Die Traumdeuter hatten sich mit Mara befasst. Sie hatten sie mit in das grüne Zimmer genommen, mit ihr gemalt und gespielt und dabei lächelnd ihre gefährlichen Fragen gestellt, die Mara bereitwillig beantwortet hatte.
Wie unschuldig sie gewesen war. Und wie dumm.
Sie war den Traumdeutern gern in das grüne Zimmer gefolgt, weil es so geheimnisvoll war. Und weil sie gern malte und spielte. Sie hatte sich besonders geliebt gefühlt, weil sie so oft hierher kommen durfte.
Es war, als hätte sie ihnen eine Glaskugel in die Hand gegeben, in der ihr ganzes Leben sichtbar war und alles, was noch kommen würde.
Später dann, als Mara gelernt hatte, ihre Träume zu verschweigen, hatten die Traumdeuter sie Stunde um Stunde in dem grünen Zimmer festgehalten, das sie inzwischen als finster und bedrückend empfand, in dem sie kaum Luft bekam.
Ihre kindliche Unbefangenheit hatte sie längst verraten. Man traute ihr nicht mehr.
Zu Recht, wie sich herausstellte, denn schließlich hatte die erwachsene Mara etwas getan, wofür sie das Strafhaus verdient hatte.
Nein, dachte Mara. Keiner hat das Strafhaus verdient. Nicht einmal ich. Was habe ich denn verbrochen?
Über die Sexualität schwieg La Lune sich aus. Sie kam einfach nicht vor. Nur in einem einzigen Satz:
Um geistiges Einssein zu erreichen, muss die Körperlichkeit überwunden werden.
La Lune lebte das vor. Sie war nicht vermählt, hatte ihr Leben der Mondheit gewidmet und dem Dienst an der Gemeinschaft.
Es gab auch andere, die unvermählt geblieben waren, nicht nur die Mitglieder des engsten Kreises, die Bekehrer und die Dienerinnen La Lunes, zu denen nur unvermählte Frauen bestimmt wurden. Gertrud zum Beispiel.
Unvermählte Männer und Frauen galten als rein. Sie genossen innerhalb der Gemeinschaft hohes Ansehen.
So wie die Mönche und Nonnen in der Welt draußen. Der Pfarrer hatte Mara davon erzählt. Männer und Frauen, die sich ihrem Gott geweiht hatten.
Mara stellte den nächsten Geschirrstapel ab. Gerade rechtzeitig, denn ihre Hände hatten angefangen zu zittern. Beunruhigt sah Jana sie an.
Es gab so viele Parallelen zwischen der Welt der Kinder des Mondes und der Welt draußen. Woher
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