Das blaue Mädchen
irgendeine Silberhochzeit.« Marlene warf Marlon einen vorwurfsvollen Blick zu. »Ganz schön viel Arbeit für eine einzige CD.«
»Tut mir wirklich Leid«, sagte Marlon.
»Wenn du Papa suchst«, Marlene fing an, mit gereiztem Klappern den Tisch zu decken, »den findest du im Stall. Das Kalb ist uns fast krepiert.«
Marlon ging zum Stall hinüber. Er wollte gerade die Tür öffnen, als sein Vater herauskam.
»Schwierigkeiten, Papa?«
»Jetzt nicht mehr, aber es war verdammt kritisch.«
»Kann ich noch irgendwas tun?«
»Habt ihr nicht heute Abend euer Fototreffen?«
»Eigentlich ja, aber...«
»Was stehst du dann noch hier herum?« Das Gesicht des Vaters war grau von Müdigkeit.
»Danke, Papa.«
Marlon sah dem Vater nach, wie er zum Haus schlurfte. Ihm war zum Heulen zu Mute.
Unterwegs war plötzlich ein ungemütlicher Wind aufgekommen. Er hatte Blätter von den Bäumen gerissen und sie vor sich hergejagt. Herbst, dachte Marlon. Viel zu früh.
»Essen fassen!«, rief Marsilio.
Giulietta ließ es sich nicht nehmen, die Gäste ihres Sohnes jedes Mal zu verwöhnen. Der Tisch im Nebenraum war wieder mit Köstlichkeiten beladen.
»
Barchette di sedano ripiene
«, erklärte Marsilio, »gefüllte Sellerieschiffchen.
Prosciutto crudo e melone
, roher Schinken mit Melone.
Bruschetta
, geröstetes Knoblauchbrot.
Salatini al timo
, Thymianpasteten.
Crema di porri
, Lauchcremesuppe.
Tiramisù all'arancia
, Tiramisu mit Orange. Und
Biancomangiare
, Mandelcreme. Und jetzt futtert, was das Zeug hält, sonst ist Mama beleidigt.«
Marlon merkte, wie hungrig er war. Er hatte seit dem Mittag nichts mehr gegessen.
Doch dann brachte er nur ein paar Bissen herunter.
Was hatte Jana aufgehalten?
Ihm war auf einmal kalt.
Gertrud kniete hinter dem Schreibtisch und kramte in einer der Schubladen. Nur ihr wirrer grauer Haarschopf schaute noch hervor.
»Hallo, Jana.« Sie reckte den Hals und lächelte.
»Woher hast du gewusst, dass ich es bin?«, fragte Jana.
»Erstens kenne ich deine Schritte und zweitens käme niemand sonst auf die Idee, mich so spät noch in der Bibliothek zu besuchen. Nicht einmal die Mitglieder der Kommission. Die lassen sich immer nur morgens blicken.«
»Ich habe noch Licht bei dir gesehen.«
Jana ließ sich auf den Stuhl fallen, der vor dem Schreibtisch stand. Sie war so erschöpft, dass es ihr vor den Augen flimmerte.
»Störe ich dich?«
»Du störst mich nie, das weißt du doch.«
Gertrud machte die Schublade zu und erhob sich ächzend.
»Wie geht es dir?«
Jana konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie hatte sich schon den ganzen Tag zusammennehmen müssen.
Mit ein paar Schritten war Gertrud bei ihr und nahm sie in die Arme.
»Ist ja gut«, murmelte sie. »Ist ja gut.«
Allmählich gewann Jana die Fassung wieder. Sie bat Gertrud um ein Taschentuch und putzte sich geräuschvoll die Nase.
»Sie haben mich ganz normal in die Schule gehen lassen. Aber gleich nach dem Mittagessen fing das Verhör wieder an. Dieselben Fragen wie gestern. Immer wieder. Wann ich Mara zum letzten Mal gesehen habe. Was sie zu mir gesagt hat. Wie sie es gesagt hat. Sie glauben mir einfach nicht, dass ich nichts weiß.«
Gertrud hatte sich hingesetzt. Über den Schreibtisch hinweg sah sie Jana aufmerksam an.
»Du guckst schon genau wie sie«, sagte Jana.
»Entschuldige. Das wollte ich nicht.« Gertrud lächelte ein wenig schief.
»Hast du eine Ahnung, wie das ist, wenn sie dich stundenlang fragen, fragen, fragen und mit Argusaugen deine Reaktionen belauern? Und dir nicht einmal Zeit lassen zu begreifen, was eigentlich passiert ist?«
»Nein. Bei mir hat die Befragung nur eine Stunde gedauert.«
»Dich haben sie auch verhört?«
»Sie nehmen sich alle vor, zu denen Mara näheren Kontakt hatte. Aber ich habe Mara seit ihrer Entlassung aus dem Strafhaus nicht mehr gesehen und damit haben sie sich schließlich zufrieden geben müssen.« Sie beugte sich vor. »Und du weißt wirklich nichts?«
Jana schüttelte den Kopf. »Nur, dass Timon die Flucht sorgfältig vorbereitet hat.« Sie drückte sich das Taschentuch gegen die Augen. »Ich schäme mich so, Gertrud. Ich habe ihn behandelt wie einen Verräter. Und ich konnte ihm nicht einmal mehr sagen, wie Leid mir das tut.«
»Das weiß er auch so, ganz bestimmt.«
»Meinst du?«
Gertrud nickte. »Etwas anderes macht mir Sorgen. Ohne Geld und ohne Papiere bist du nichts in der Welt da draußen. Wie wollen die beiden sich in diesem Dschungel
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