Das blaue Mädchen
abwechselten. Vielleicht fuhren sie gerade mit einem von ihnen im schützenden Dunkel eines Autos zu ihrem nächsten Versteck.
Würden sie in Deutschland bleiben?
Jana drehte sich stöhnend auf die andere Seite. Wenn sie sich doch bloß an die Bücher erinnern könnte, die Timon bei seinem letzten Besuch in der Bibliothek ausgeliehen hatte.
Die Bücher! Jana hielt den Atem an.
Wer außer Gertrud und ihr wusste von Timons Spezialgebiet? Ein Zurückverfolgen seiner Ausleihen wäre zwar schwierig, aber nicht unmöglich.
Gerald! Er war damals auch in der Bibliothek gewesen. Er hatte Timon angesprochen. Hatte er nicht sogar etwas über die Bücher gesagt?
Jana dachte fieberhaft nach.
Na? Wieder Lesefutter für Wochen ausgeliehen?
Und Timon?
Er hatte nicht geantwortet, sondern lächelnd seine Bücher zusammengepackt.
Lächelnd! Das konnte doch nur bedeuten, dass er sich sicher fühlte.
Es hielt Jana nicht mehr im Bett. Sie stand auf, warf sich den Bademantel über, ging zum Fenster und schob den Vorhang ein Stück zur Seite. Wie das Mondlicht die Dinge veränderte. Als gäbe es neben der Welt, die Jana kannte, eine zweite, in der selbst die Träume erfroren.
Warum hatte Timon sich so sicher gefühlt? Warum?
Jana legte sich wieder ins Bett. Sie lächelte.
»Du hast dich sicher gefühlt, weil du eine falsche Spur gelegt hast«, flüsterte sie.
14
Die Luft schien von den Geräuschen zu vibrieren. Sägen, Hämmern, Bohren, Rufe und immer wieder Gelächter. Die meisten Bauern des Dorfs und ihre Söhne beteiligten sich am Wiederaufbau von Heiner Eschens Scheune und auch einige Töchter machten mit. Selbst Marlene und Greta hatten sich aufgerafft, an diesem Samstagmorgen zu helfen.
Es war eine eindrucksvolle Demonstration von Solidarität, gerade hier, so nah bei den Gebäuden der Sekte. So leicht ließen sie sich nicht einschüchtern. Keinen Zentimeter würden sie zurückweichen.
Ab und zu ein grimmiger Blick hinüber zu
denen da
, ein verächtliches Grinsen, ein Ausspucken, das Pfeifen einer kleinen Melodie – kommt nur rüber mit eurem nächsten Angebot! Wir werden es euch um die Ohren hauen!
Selten war ihnen eine Arbeit so leicht von der Hand gegangen, selten hatten sie dabei solche Euphorie verspürt. Wir sind das Dorf! Wir haben die Zügel in der Hand! Wollt ihr Krach? Könnt ihr haben!
Marlon war einer von ihnen, doch er gehörte nicht mehr dazu. Er verstand, warum sie in dieser Stimmung waren, aber er selbst konnte sie nicht nachempfinden. Ruhig tat er seine Arbeit. Er atmete den Duft des frisch geschnittenen Holzes ein und freute sich, dass etwas Neues entstand. Seine Hände fassten überall da an, wo sie gebraucht wurden. Aber immer wieder kehrte sein Blick zu den Kindern des Mondes zurück, die jenseits der unsichtbaren Grenze ihren eigenen Beschäftigungen nachgingen.
Ihre Gesichter konnte man von hier aus nicht erkennen. Und so zuckte Marlon jedes Mal zusammen, wenn er eine blau gekleidete Gestalt sah.
»Die haben ein paar ziemlich schnuckelige Jungs da drüben«, hörte er Greta sehnsüchtig sagen.
»Unberührbare.« Das war Marlenes Stimme. »Die heiraten nur ihre eigenen Mädchen.«
»Das Leben ist schrecklich ungerecht.«
»Und wenn wir überlaufen?«
Die beiden kicherten und wandten sich wieder anderen Dingen zu.
Marlon stand wie erstarrt. Das wäre tatsächlich der einzige Weg. Er könnte einer von ihnen werden. Wie viel war ihm seine Liebe wert?
Er setzte den Nagel an, hob den Hammer und ließ ihn wieder sinken. Wie viel ihm seine Liebe wert war? Zu viel, um sie so aufs Spiel zu setzen.
Er hatte nicht das Zeug zu einer universellen Liebe. Er wollte Jana lieben und nicht die ganze Gemeinschaft.
Und wenn sie Kinder bekämen?
Kinderhaus. Mädchenhaus. Jungenhaus.
Strafhaus.
Es musste einen anderen Weg geben. Irgendwo. Entschlossen hob Marlon den Hammer und schlug zu.
Jana hatte Dienst im Kinderhaus, doch sie war nicht bei der Sache. Sie musste eine Gelegenheit finden, in die Kirche zu gelangen, wo sie hoffentlich den Pfarrer antraf.
Und sie musste Marlon sehen.
Sie bewegte sich auf schlüpfrigem Boden. Ein falscher Schritt und sie würde fallen.
Mara hatte oft darüber gespöttelt, dass Jana die Gesetze der Mondheit so gewissenhaft befolgte.
»Neben dir verblasst sogar La Lunes Heiligenschein«, hatte sie einmal gesagt. »Wenn du so weitermachst, wirst du noch ihre Nachfolgerin.«
Sie hatte sich in gespielter Ehrfurcht vor Jana verneigt und Jana war so verlegen gewesen,
Weitere Kostenlose Bücher