Das blaue Mädchen
gingen zusammen weiter, Hand in Hand.
Eine Möwe segelte durch die Luft und ließ sich ein paar Meter vor ihnen nieder. Wind kam auf und fuhr ihnen durchs Haar. Sie hörten das Meer, bevor sie es sahen. Wellen rollten an den Strand, brachen sich an den Felsen. Weiß spritzte Gischt auf. Der Wind blies ihnen die Nässe ins Gesicht. Jana schmeckte Salz auf den Lippen.
Sie öffnete die Augen, weil sie die Bilder nicht mehr ertrug. So würde es niemals sein. In Wirklichkeit wusste sie nicht, wie Salzwasser schmeckte. Sie kannte auch das Meer nur von Bildern. Und sie war noch nie über Heidekraut gelaufen.
Indra wurde unruhig, rutschte hin und her, stand schließlich auf und huschte hinaus. Miri hob nicht einmal den Kopf.
Es erstaunte Jana immer wieder, welche Wirkung diese Musik auf Miri hatte. So wenig sie sonst auch nur für eine Minute stillhalten konnte – in diesem Zimmer machte sie eine verblüffende Wandlung durch. Ruhig und entspannt lag sie da, Beine und Arme ausgestreckt, den Kopf zur Seite geneigt.
Die meisten Kinder in ihrem Alter verhielten sich, wie Indra es eben getan hatte. Miri dagegen war von Anfang an förmlich mit der Musik verschmolzen.
Jana legte sich hin und überließ sich ihren Gedanken.
Schon vor Jahren, an dem Tag genau, an dem sie den ersten Satz in ihr Tagebuch schrieb, hatte sie den ersten Schritt getan und den Weg verlassen, der den Kindern des Mondes vorgezeichnet war.
Absoluter Gehorsam und rückhaltlose Aufrichtigkeit sind den Kindern des Mondes ein Bedürfnis und eine Freude. Jeden ihrer Gedanken breiten sie offen vor der Mondheit und der Gemeinschaft aus.
Wohin würden die weiteren Schritte sie führen?
Eine kleine heiße Hand legte sich auf ihre. Jana umschloss sie mit den Fingern. Es war wie ein Versprechen. Sie würde sehr, sehr vorsichtig sein.
Martha Eschen brachte ihnen das Essen. Sie breitete eine Decke auf dem Boden aus und leerte ihre Körbe. Brot und Käse, kaltes Fleisch, Wurst und Schinken, Kartoffelsalat, Obst, Kaffee und Tee und zwei Bleche mit frisch gebackenem, noch warmem Pflaumenkuchen.
Marlon goss sich Tee ein und wärmte die klammen Finger an dem Becher. Ein kräftiger Ostwind war aufgekommen, kalt und aggressiv, ein Vorbote herbstlicher Stürme. Sie rückten näher zusammen.
Die Gesichter waren Marlon fast so vertraut wie die seiner Eltern und Schwestern. Nachbarschaft bedeutete jedem hier mehr als nur die Zugehörigkeit zu einer zufälligen Dorfgemeinschaft. Sie waren wie eine große Familie und wussten so gut wie alles voneinander. Die wenigen Geheimnisse, die übrig blieben, ließen sie unangetastet.
Und wie war es bei Jana?
Was wusste Marlon von ihrer Welt?
Romeo und Julia, dachte er, getrennt von einer unüberwindlichen Mauer.
Und das Furchtbarste an dieser Mauer war, dass sie sich in den Köpfen aufgerichtet hatte.
»Zwei von denen sollen die Flatter gemacht haben«, sagte Heiner Eschen und schnitt sich eine dicke Scheibe Salami ab. »Seitdem ist es da drüben, als hätte wer mit einem Stock in einem Ameisenhaufen gestochert.«
Marlon hob den Kopf.
»Lisbeth Jansen hat's mir erzählt. Sie ist auf dem Weg zum Briefkasten und da steht plötzlich ein kleines Mädchen vor ihr und spricht sie an, wo doch nie einer von denen mit uns redet. ‘Weißt du, wo Mara ist?’, fragt sie Lisbeth. ‘Ich suche sie überall.’ Lisbeth, die natürlich nicht mal den Namen kannte, hat den Kopf geschüttelt und da hat das Mädchen gesagt, diese Mara wär verschwunden und einer, der Timo heißt oder so ähnlich, auch. Und in dem Augenblick ist eine von diesen Kinderfrauen fuchsteufelswild angerannt gekommen und hat das Mädchen zurückgeholt. Von wegen, Liebe und Verständnis unter den Menschen! Lisbeth hat gesagt, es ist ihr bei ihrem Anblick kalt über den Rücken gelaufen.«
»Ein blondes Mädchen?«, fragte Marlon. »Etwa fünf Jahre alt?«
»Darüber hat sie nichts Genaues gesagt.« Heiner Eschen sah Marlon verwundert an. »Na, jedenfalls war bei denen zwei Nächte lang die Hölle los. Ein Hin und Her von Autos und überall Licht. Ihr wisst ja, dass wir von unserm Hof aus das ganze Gelände überblicken können. Und weil ich nicht gut schlafe und nachts oft auf bin, hab ich das beobachtet. Hast du noch einen Kaffee für mich, Martha?«
Er ließ sich einschenken und trank.
»Bei Gott! Ich wünsch den beiden, dass sie es schaffen.«
Marlon ging wieder an die Arbeit. Er musste darüber nachdenken, was diese Nachricht für ihn bedeutete. Und seine
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