Das blaue Mädchen
dass sie nicht gewusst hatte, wo sie hinsehen sollte.
»Was nicht das Schlechteste wäre.« Mara war plötzlich wieder ernst geworden. »Dann hätten wir alle endlich die Möglichkeit, wirklich glücklich zu sein.«
Wirklich glücklich.
Die Worte hatten sich in Janas Kopf eingenistet. Wünsche ausgebrütet. Und Träume.
Mara hatte versucht, ihr die Augen zu öffnen für die Dinge im Leben der Gemeinschaft, die sie
unmenschlich
nannte. Jana hatte ihr zugehört. Und sie verstanden. Aber sie war davon überzeugt gewesen, dass es sich dabei lediglich um eine Unvollkommenheit des Systems handelte, die überwunden werden konnte.
»Irgendwann«, hatte sie gesagt, »irgendwann wird alles gut und richtig sein.«
»Nein«, hatte Mara geantwortet. »Irgendwann wirst auch du aufwachen und feststellen, dass du eine Widerständlerin bist.«
Und das war sie jetzt. Eine Widerständlerin. Eine Untergrundkämpferin. Sie konnte die Verbote, die sie bereits übertreten hatte, kaum noch zählen.
»Jana! Du hörst gar nicht zu!«
»Entschuldige, Miri. Was hast du gesagt?«
»Ich sag das nicht zweimal.«
»Mir sind gerade ein paar Gedanken durch den Kopf gegangen, Miri.«
»Haben denn die Beine?«
»Wenn Jana das sagt, dann stimmt das auch.« Indra stand neben ihnen, eine kleine, böse Gewitterwolke.
»Das ist nur eine Redensart«, erklärte Jana. »Ich meine damit, dass ich nachgedacht habe.«
»Worüber?«, fragte Miri.
»Kinder des Mondes fragen nicht«, wies Indra sie zurecht. »Sie horchen in sich hinein.«
»Ich hör nichts in mir drin.« Miri streckte Indra die Zunge heraus. »Und deswegen frag ich so viel, wie ich will!«
»Ich habe über mich selbst nachgedacht«, beantwortete Jana Miris Frage.
Indra kletterte ihr auf den Schoß und schlang die Arme um ihren Hals.
»Ich denke auch viel nach«, sagte sie. »Und meine Gedanken haben wohl Beine! Auch wenn das bloß eine Redensart ist.«
Jana sah Miris finsteren Gesichtsausdruck. Sie hob Indra sanft von ihrem Schoß, griff ins Regal und zog ein Buch heraus.
»Soll ich euch eine Geschichte vorlesen?«, fragte sie.
Indra nickte.
Miri schüttelte den Kopf.
»Weil du Jana für dich alleine haben willst«, sagte Indra, die Janas Schoß nur unfreiwillig verlassen und sich missmutig auf den Boden gesetzt hatte. »Immer willst du alles für dich alleine haben.«
Miri wehrte sich nicht, das war ungewöhnlich. Jana schaute sie sich genauer an. Miris Augen hatten einen eigentümlichen Glanz.
»Fühlst du dich nicht wohl?« Jana befühlte Miris Stirn.
»Mir ist heiß bloß von dem Hüpfspiel eben.« Miri schob Janas Hand weg. »Können wir nicht ein bisschen Musik hören?«
»Das würde mir auch gefallen.« Jana stellte das Buch wieder weg. »Und dir, Indra?«
»Wenn ich die CD einlegen darf.«
Um Musik hören zu können, mussten sie in den eigens dafür eingerichteten Raum gehen. Auch Miris Hand war heiß.
»Vielleicht kriegst du eine Erkältung«, sagte Jana.
»Will ich aber nicht. Dann muss ich immer im Bett liegen und eklige Sachen trinken und darf überhaupt nichts machen und bin ganz viel alleine. Dann hab ich Angst.«
Jana konnte sich noch gut an die langen Nachmittage ihrer Kindheit erinnern, die sie allein im Schlafsaal verbracht hatte. Während in ihrem Kopf das Fieber getobt hatte, waren in den Ecken und Winkeln die Gespenster wach geworden. Die Schatten hatten mit langen Fingern nach ihr gegriffen und sie hatte sich die Bettdecke über den Kopf gezogen.
»Nichts verraten!« Miri sah Jana flehend an.
»Nein, ich verrate nichts. Aber du musst mir versprechen, dass du dich meldest, wenn es schlimmer wird. Tust du das?«
»Bei der hochheiligen Mondheit!« Miri hob drei Finger zum Schwur.
»Und jetzt sag mir, was du hören willst.«
»Medi...musik.«
»Meditationsmusik? Gut.«
Indra legte die CD ein. Die Mädchen streckten sich auf den Liegekissen aus und machten die Augen zu. Jana setzte sich auf ihr Kissen, zog die Knie an und umschlang sie mit den Armen.
Sobald sie die Augen schloss, brachte die Musik Bilder in ihr hervor.
Sie spazierte über eine weite, grüne Ebene, die von roten und weißen Blüten gesprenkelt war. Unter ihren nackten Füßen konnte sie Heidekraut fühlen. Torfgeruch stieg ihr in die Nase. Hier und da wuchs eine Kiefer, schief vom Wind. Der Himmel war blau, von feinen Dunstschleiern überzogen.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter und Jana drehte sich um.
Marlon lachte, zog sie an sich und küsste sie auf den Mund.
Sie
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