Das blaue Mädchen
vorstellen?«
Marlon zog sie an sich. »Alles kann ich mir vorstellen«, flüsterte er. »Solange du bei mir bist.«
Er kam sich vor wie ein Tölpel. Was nützten ihm jetzt all die Romane, die er gelesen hatte? In denen den Menschen immer das rechte Wort zur rechten Zeit auf der Zunge lag?
Er konnte Jana nur ansehen und halten und Angst um sie haben.
»Halt mich fest«, sagte sie. »Halt mich einfach ganz fest.«
15
Auf dem Heimweg dachte Marlon über das nach, was Jana ihm erzählt hatte. Immer wieder waren ihr Tränen über die Wangen gelaufen. Marlon hatte es kaum ausgehalten, sie weinen zu sehen. Sie war ihm so zerbrechlich vorgekommen.
»Maras Kleider hängen alle noch im Schrank«, hatte sie gesagt. »Als wäre sie nur mal eben kurz aus dem Zimmer gegangen. Und dann ihre Schulsachen, Marlon! Manchmal schlage ich eines ihrer Hefte auf und gucke mir ihre Schrift an. Es ist, als hätte sie die Sätze und Zahlen gerade erst geschrieben.«
Sie hatte sehr leise gesprochen. Und hastig. Als hätte sie das Gefühl gehabt, ihm ihr ganzes Leben in ein paar Minuten erklären zu müssen.
Er versuchte, sich die Namen ins Gedächtnis zurückzurufen. Mara. Timon. Gertrud. Miri. Anna. Gerald. Und natürlich La Lune. Immer wieder La Lune.
Unmerklich hatten einzelne Kinder des Mondes für ihn Gestalt angenommen. Er würde sie nie mehr als gesichtslose Mitglieder einer Sekte betrachten können. Vor allem diese Gertrud nicht. Sie schien ein außergewöhnlicher Mensch zu sein und Marlon hatte den Eindruck, dass sie Jana beschützen konnte. Soweit das überhaupt möglich war, denn auch sie war ein Kind des Mondes und ihre Macht endete genau da, wo La Lune ihr die Hände gebunden hatte.
Dürers
Betende Hände
kamen ihm in den Sinn. Eine billige Reproduktion davon hing in der Schlafstube seiner Eltern. Als Kind hatte er oft davor gestanden und sie betrachtet. Es ging etwas von ihnen aus, das ihn verwirrte und verstörte, sogar heute noch, allerdings betrat er die Schlafstube seiner Eltern nur noch selten.
Betende Hände
, dachte Marlon. Gefesselt mit einem Strick.
»Da bist du ja.«
Gertrud sagte das betont beiläufig, aber in ihrer Stimme tanzte Erleichterung. Sie machten sich sofort an die Arbeit.
Die Kinder des Mondes widmen ihr Leben in Demut dem Dienst an der Gemeinschaft, denn damit dienen sie der Mondheit.
»Ich frage dich nicht, wo du gewesen bist«, sagte Gertrud, stemmte das erste Regal hoch und trug es an die dafür vorgesehene Stelle. Vor Anstrengung trat ihr eine dicke Ader auf der Stirn hervor und ihr Gesicht lief rot an.
»Weil du es ahnst.« Jana versuchte, das zweite Regal anzuheben, aber es war zu schwer. Sie fasste es anders und probierte es noch einmal, wieder vergebens.
Ein Kind des Mondes bewältigt jede ihm aufgetragene Arbeit. Es begrüßt schwierige Aufgaben freudig, weil sie ihm die Möglichkeit geben, an ihnen zu wachsen.
Gertrud packte mit an. Über ein Regalbrett hinweg sahen sie sich in die Augen.
»Frailty, thy name is woman«, sagte Gertrud atemlos.
»Was so viel heißt wie?«
»Schwachheit, dein Name ist Weib.«
»Und das ist von wem?«
»Shakespeare. Hamlet, glaube ich, und selbstverständlich meint es etwas anderes, als dass Frauen sich schwer tun, Regale zu schleppen. Es fiel mir nur ein, als ich dich da rütteln und rucken sah, als wollte eine Ameise ihre Kraft an einem Baumstamm erproben.«
Sie lachten und setzten das Regal ab und lachten weiter und hielten sich die Seiten, denn es war ein Lachen, das immer heftiger wurde und fast schon an Hysterie grenzte, ein Lachen, in dem sich sämtliche Spannung der vergangenen Tage entlud.
»Hör auf!« Gertrud zog ein Taschentuch aus dem Ärmel hervor und wischte sich die Augen. »Hab Erbarmen, Jana! Ich bitte dich!«
Aber Jana konnte nicht aufhören. Obwohl das Lachen sie beinah zerriss.
Nur ganz allmählich ebbte es ab. Gertrud lehnte erschöpft an der Wand, Jana saß auf dem Boden, die scharfen Kanten des Heizkörpers im Rücken. Sonnenlicht lag auf den Eichendielen und ließ das Holz warm leuchten. Jana streckte die Beine aus, bewegte die Füße und beobachtete, wie sie Schatten warfen.
Gertrud wischte sich ein letztes Mal die Augen und schnäuzte sich dann energisch.
»Ich bin froh, dass es dich gibt«, sagte Jana.
Gertrud strich ihr das Haar aus der Stirn.
»Manche Dinge müssen wir uns nicht sagen, Jana. Weil wir sie wissen.«
»Hast du was dagegen, wenn ich ein paar Fotos von dir mache?«, fragte Marlon seine
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