Das blaue Mädchen
haben.«
Einfangen, hatte Marlon gedacht. Wie Tiere.
»Die beiden haben nicht die Spur einer Chance«, hatte der Vater das Thema beendet. »Diese La Lune hat ihre dreckigen Pfoten doch überall im Spiel.«
Das heiße Wasser machte Marlon schläfrig. Die Augen fielen ihm zu.
Er wurde davon wach, dass jemand gegen die Tür hämmerte.
»Andere wollen auch mal ins Bad!«, hörte er Gretas Stimme.
Und dann sah er das Buch. Es trieb im Wasser, klatschnass, vollkommen ruiniert.
Er fischte es heraus und schleuderte es gegen die Tür.
Mara hatte ihr so viel von diesem Ort erzählt, dass Jana ihn sofort erkannte, obwohl sie noch nie hier gewesen war. Sogar der Geruch kam ihr vertraut vor, ein Geruch nach altem, von unzähligen Berührungen poliertem Holz, nach frischen und welken Blumen, dem Wachs der brennenden Kerzen und nach etwas, das sie nicht benennen konnte.
Langsam ging sie nach vorn. Es war kalt hier drinnen und sie zog die Jacke fest um den Körper. Sie sah zu den Fenstern hoch, die farbige Lichtflecken auf den Boden und an die gekalkten Wände warfen.
Die Stille hatte dieselbe Wirkung auf sie, die Mara beschrieben hatte. Jana fühlte sich aufgehoben und geschützt, wusste jedoch, dass dieses Gefühl sie trog. Sie betrachtete den Dahlienstrauß auf dem Altar, die reich bestickte Borte der weißen Decke.
Und dann sah sie den gekreuzigten Gott, über den Mara so oft gesprochen hatte.
Sein magerer Körper war aus Holz geschnitzt.
Die Statuen der Mondheit waren alle aus Stein.
Jana dachte an Marlons Worte.
Sein Sohn war ein Mensch. Aber gleichzeitig war er auch Gott.
Wenn das hier der Sohn eines Gottes war, wieso hatte er dann so grausam sterben müssen?
Links vom Altar befand sich eine Tür. Jana öffnete sie vorsichtig. Ein Schrank, ein Tisch und zwei Stühle, sonst nichts.
Mara war dem Pfarrer nur manchmal begegnet. Offenbar war er nicht immer hier. Aber Jana konnte nicht auf ihr Glück vertrauen und warten. Sie hatte keine Zeit.
Sie schlüpfte wieder hinaus, tauchte rasch in den Schatten der alten Linden ein, von denen die Kirche umgeben war, und schlich davon wie ein Dieb.
Marlon pfiff nach dem Hund und hängte sich die Kamera über die Schulter. Auch als er Jana das erste Mal getroffen hatte, war er mit der Kamera unterwegs gewesen. Vielleicht brachte sie ihm Glück.
Kurz vor dem Waldweg kam ihnen Eschens Sohn Dietmar auf dem Traktor entgegen. Er hielt an und beugte sich zu Marlon hinaus.
»Auf Fotosafari?«
»Wieder mal«, antwortete Marlon. »Muss ein bisschen was für die Schule tun.«
»Jo.« Dietmar winkte ihm zu und fuhr weiter.
Marlon sah dem Traktor nach, bis er verschwunden war, erst dann bog er in den Waldweg ein. Sein Herz klopfte schneller. Er war zu früh, aber er hätte es keine Stunde länger zu Hause ausgehalten.
»Wenn sie nicht da ist«, sagte er zu dem Hund, »kommen wir eben später noch mal. Und morgen und übermorgen wieder.«
Der Hund drehte flüchtig die Ohren nach ihm, bellte einmal kurz und aufgeregt, flitzte dann los und war im Grün des Dschungels verschwunden.
Marlon beschleunigte seine Schritte. Bitte, sei da, dachte er, bitte!
Jana war von der Kirche aus direkt zur Lichtung gegangen. Sie hatte sich auf einen Baumstamm gesetzt, der von Moos und Flechten überwachsen war und auf den ersten Blick aussah wie ein tief unter Wasser verrottendes Teil eines vor Jahren versunkenen Wracks.
Ihre Angst hatte sich ein wenig gelegt. Übrig geblieben war eine schmerzhafte Anspannung all ihrer Nerven, mit der sie jedes Geräusch und jeden Wechsel des Lichteinfalls registrierte.
Und so hörte sie den Hund eine ganze Weile, bevor er unter den Bäumen auftauchte. Sie stand auf und ging ihm entgegen. Hechelnd kam er auf sie zugelaufen, sprang an ihr hoch und umkreiste sie, fiepend vor Freude.
»Bist du allein gekommen oder hast du Marlon mitgebracht?«, fragte sie ihn, und er schoss wieder davon und kam mit Marlon zurück.
»Dass du da bist!« Marlon hielt Jana, als wolle er sie nie wieder loslassen. »Dass du wirklich da bist!«
Neben ihnen knurrte der Hund und sie fuhren alarmiert auseinander.
Es war nur ein Eichhörnchen, dem der Hund kläffend nachjagte, bis es den Stamm einer Tanne erreicht hatte und daran hochkletterte.
Jana lachte vor Erleichterung, dann traten ihr Tränen in die Augen.
»Wir werden uns immer verstecken müssen, Marlon. Selbst ein harmloses kleines Eichhörnchen versetzt uns in Angst und Schrecken. Kannst du dir so ein Leben
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