Das blaue Mädchen
sich zu nehmen. Während die Riemen ihren Rücken peitschten, hatte sie gelächelt, ein Lächeln voller Hingebung und Schmerz.
Jana, die bereits am Abend zuvor zu einem Gespräch gerufen worden war, hatte eine ganz andere La Lune vorgefunden. In diesem ersten Verhör hatte sie Mara und Timon nicht mit verirrten Schafen verglichen. Sie hatte sie Verräter an der heiligen Sache genannt, Abtrünnige, die sich für ihr schändliches Tun vor der Mondheit und vor der Gemeinschaft würden verantworten müssen. Niemals zuvor hatte Jana sie so erlebt, so hart und unversöhnlich, so zornig und unbeherrscht.
Zwei Gesichter, dachte Jana, während sie den Kindern auffüllte. Wie bei der Mondheit. Und die wenigsten von uns haben das andere Gesicht gesehen.
Miri rührte ihren Teller nicht an, obwohl es Milchreis gab, ihr Lieblingsgericht.
»Nimm ruhig noch ein bisschen Zucker«, flüsterte Jana.
Die Kinder des Mondes üben sich in Mäßigung. Ihre Nahrung ist bescheiden und schlicht. Nur so bleibt ihr Geist wach und gesund.
Miri presste die Hand auf das linke Ohr und stöhnte.
»Tut dir das Ohr weh?«, fragte Jana.
Miri nickte vorsichtig.
»Wie lange schon?«
»Weiß nicht.«
»Hast du den Kinderfrauen davon erzählt?«
»Ja. Tanja hat mir warmes Öl reingetan.«
»Aber es ist nicht besser geworden?«
Miri begann zu weinen. Jana hob sie hoch und trug sie hinaus.
»Nicht in den Schlafsaal!«
»Pscht! Sei ganz ruhig. Ich bringe dich in mein Zimmer. Du weißt ja, dass Mara nicht mehr in ihrem Bett schläft. Vielleicht erlaubt La Lune, dass du bei mir bleiben kannst, bis du wieder richtig gesund bist.«
Von Schritt zu Schritt wurde Miri schwerer. Als Jana die Treppe hochgestiegen war und endlich die Tür zu ihrem Zimmer aufmachte, keuchte sie vor Anstrengung. Sie legte Miri behutsam auf Maras Bett und deckte sie zu.
»Mein Ohr! Mach, dass es aufhört, Jana!«
»Ich spreche jetzt mit La Lune, ja? Hab keine Angst. Ich bin gleich wieder da.«
»Du sollst nicht weggehn!«
Jana setzte sich zu ihr auf die Bettkante.
»
Mond, Mond, Mond
«, sang sie leise, »
der hoch am Himmel thront
.«
Miri drehte sich auf die Seite, bettete die Wange auf Janas Hand und schloss die Augen.
»
Schenke uns dein Silberlicht, oh Mondenschein, verlass uns nicht.
«
Jana spürte, wie Miris Atem über ihr Handgelenk strich, sah die flatternden Augenlider ruhig werden, spürte, wie der kleine Kopf auf ihrer Hand schwer wurde.
»
Mond, Mond, Mond, der hoch am Himmel thront, bist bei uns in der Nacht...«
Lautlos öffnete sich die Tür und Sonja kam herein. Jana legte einen Finger auf die Lippen. Sonja blieb bei der Tür stehen.
»...
gibst gütig auf uns Acht. Mond, Mond, Mond.«
Vorsichtig zog Jana die Hand unter Miris Gesicht hervor, stand auf und schlich mit Sonja aus dem Zimmer.
»Sie ist krank«, sagte sie, als sie auf dem Flur standen.
»La Lune möchte dich sprechen.«
Sonja berührte Janas Schulter, ganz leicht, nur mit den Fingerspitzen. Wie seltsam, dachte Jana, dass ausgerechnet die Kinder des Mondes mit ihrer Sehnsucht nach allumfassender Liebe eine solche Scheu vor Berührungen haben.
»Soll ich... soll ich ihr sagen, ich hätte dich nicht gefunden?«
Und wie schön, dachte Jana, dass ab und zu, wenn auch nur sehr selten, der eine oder andere eine der tausend Grenzen überschreitet. Ausgerechnet Sonja, die das feste Regelwerk von Gesetzen und Formeln brauchte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, machte gleich einen ganz großen Schritt in eine verbotene Richtung.
»Du brauchst nicht für mich zu lügen, Sonja. Ich wollte sowieso zu ihr. Ich wollte nur warten, bis Miri sich beruhigt hatte.« Sie drückte Sonjas Hand. »Aber danke, dass du es für mich getan hättest.«
Die Bäume hatten schon viel Laub verloren. Rot, gelb und braun tupfte es den Weg. Bald würde es nicht mehr so leicht sein, sich im Wald zu verstecken. Die nackten Zweige würden nicht nur den Wind und die Kälte durchlassen, sondern auch neugierige Blicke.
»Du wirst Schwierigkeiten bekommen«, sagte Sonja und überschritt wieder eine Grenze. »La Lune ist außer sich.«
»Ich stecke sowieso bis zum Hals in Schwierigkeiten.«
Jana hob ein rotes Ahornblatt auf, betrachtete die feinen Verästelungen seiner Adern, warf es dann in die Luft und sah ihm zu, wie es wieder auf den Boden segelte.
»Hast du dir schon einmal gewünscht, fliegen zu können, Sonja?«
»Hat sich das nicht jeder schon mal gewünscht?«
»Durch den Himmel fliegen, Sonja!
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