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Das blaue Mädchen

Titel: Das blaue Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Feth
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Stell dir das vor! Überallhin!«
    »Und wenn du nicht die Einzige wärst, die Flügel hätte?« Sonja stockte, und als sie weiter sprach, war ihre Stimme ganz leise. »Wenn... alle fliegen könnten? Was hätte der Himmel dann noch für eine Bedeutung?«
    Sie hatte Recht. Er wäre nur ein vergrößertes Gefängnis.
    Sonja ging schneller. Vielleicht bereute sie ihre Offenheit schon. Doch an der Tür zum Speisesaal blieb sie stehen, die Klinke in der Hand.
    »Ich wünsche dir, dass dir Flügel wachsen, Jana. Du hast den Mut zum Fliegen.«

    Mathematik war für Marlon ein großes Geheimnis, in das er nie würde eindringen können, selbst wenn er es noch so sehr versuchte. Eine beachtliche Reihe von Mathelehrerinnen hatte ihn abwechselnd in Langeweile versetzt und in Verzweiflung gestürzt. Sie unterschieden sich nur andeutungsweise voneinander. Im Wesentlichen waren sie sich ähnlich wie die Aufgaben, die sie stellten, sachlich, wortkarg und unzugänglich.
    Marlon füllte das Papier mit Zahlen und strich alles wieder durch. Er begann, die freien Stellen mit Männchen zu bekritzeln und mit obszönen Worten auszuschmücken. Die Schule kam ihm vor wie ein Panoptikum. Trrreten Sie ein, meine Damen und Herren! Trrreten Sie ein! Jeeedes Fach ein Unikat! Und zu jedem die Lehrer im Dutzend!
    Der Hund lag auf dem Bett und schlief. Ab und zu winselte er, tief in einen Traum verstrickt.
    Können Hunde träumen?
, schrieb Marlon.
    »Klar«, sagte er laut. »Warum sollten sie nicht träumen können?«
    Beim Klang seiner Stimme richtete der Hund kurz die Ohren auf und schlief dann weiter. Verschwiegen hütete er die Geheimnisse, die Marlon und Jana ihm, unabhängig voneinander, über Jahre anvertraut hatten.
    Wusste er, ob Jana Mathe mochte?
    Marlon hatte Lust, ein Gedicht zu schreiben. Dabei hasste er Gedichte. Er hatte schon zu viele auswendig lernen und später interpretieren müssen. Widerwillig hatte er den Sätzen das Fell abgezogen und in den Innereien herumgestochert. Nein, kein Gedicht. Aber reden musste er. Unbedingt.
    Der Hund wurde sofort wach, als Marlon die Tür aufmachte, und trottete verschlafen hinter ihm her. Seine Krallen verursachten ein kratzendes Geräusch auf dem Holz der Treppe.
    Der Vater war im Stall und reparierte zwei Fenster, die irgendjemand eingeschlagen hatte. Welche von
denen da
, davon war er fest überzeugt. Er hatte vor Wut geschäumt, als er den Schaden bemerkt hatte, und war sofort zur Polizeidienststelle des Nachbarorts gefahren und hatte Anzeige gegen unbekannt erstattet.
    »Und das war's auch schon«, hatte er gesagt, als er wieder zu Hause war. »Die werden diesen Fall genauso wenig aufklären wie all die anderen Fälle. Die da sind schlau. Die wissen, wie man Spuren verwischt.«
    Die Zwillinge stromerten irgendwo mit Freundinnen herum. Marlon hatte seine Mutter für sich allein.
    Sie saß in der Küche und löste das Kreuzworträtsel in einer der Frauenzeitschriften, die sie manchmal kaufte. Seit kurzem besaß sie eine Lesebrille, an die Marlon sich noch nicht gewöhnt hatte. Sie offenbar auch nicht, denn sie verlegte sie immerzu und war ständig auf der Suche nach ihr. Jetzt aber trug sie sie.
    Marlon setzte sich zu ihr an den Tisch.
    »Gattin des Odysseus«, sagte sie. »Acht Buchstaben, der vierte ist ein E.«
    »Penelope.«
    Sie zählte nach und schaute ihn überrascht an.
    »Stimmt! Woher weißt du so was nur?«
    »Reiner Zufall, Mama.«
    Sie schrieb die Buchstaben in die Kästchen und nahm die Brille ab.
    »Von wegen, Zufall! Du bist klug, mein Junge, und ich bin stolz auf dich.«
    »Erzähl das mal meiner Mathelehrerin.«
    »Mathe? Meinst du, es macht dich zu einem besseren Menschen, wenn du mit Zahlen jonglieren kannst?« Sie klappte die Zeitschrift zu und legte den Kugelschreiber weg. »Und nun sag mir, worüber du wirklich mit mir sprechen willst.«
    »Hast du den sechsten Sinn, Mama?«
    »Den haben alle Mütter. Ich kenne dich doch, Marlon, und ich merke, dass du dir Sorgen machst.«
    »Zwei von den Kindern des Mondes sind geflohen.«
    »Ich weiß. Papa hat es mir erzählt.« Sie legte die Brille neben sich auf die Bank. Dort würde sie sie vergessen und dann wieder das ganze Haus nach ihr absuchen. »Ist dein Mädchen dabei gewesen?«
    »Nein. Aber sie war mit dem Jungen und dem Mädchen, die weggelaufen sind, befreundet. Und jeder denkt nun, sie wär eingeweiht gewesen. Sie sind äußerst rigoros, wenn sie jemanden verdächtigen.«
    »Das Strafhaus.« Die Mutter nickte. »Mir

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