Das blaue Mädchen
Mutter, die damit beschäftigt war, die Herdplatten zu schwärzen.
»Besser nicht«, wehrte sie ab. »Ich bin nicht foto... wie sagt man dazu?«
»Fotogen«, sagte Marlon. »Red dir nichts ein, Mama. Du bist, wie du bist, und genau so will ich dich auf den Fotos haben.«
Sie zögerte immer noch.
»Morgen?«
»Am liebsten gleich jetzt.«
Sie drehte sich nach ihm um, das Schwärzmittel in der Hand.
»Ich hab noch so viel zu tun, Marlon, die Betten beziehen, waschen, bügeln...«
»Kann ich dich nicht bei der Arbeit fotografieren?«
»Also gut.« Sie seufzte. Mit der freien Hand strich sie sich die Schürze glatt, dann fuhr sie sich übers Haar.
»Lass alles so, wie es ist.« Marlon packte die Kamera aus. »Du bist schön genug.«
Noch eine Stunde bis zum Melken und er würde diese Stunde nicht allein verbringen müssen, eingesperrt in seine Gedanken.
»Schön?«, sagte sie. »Wer schön sein will, darf nicht so hart arbeiten.«
Marlon nahm sie von der Seite auf.
»Mach weiter, Mama. Kümmere dich nicht um mich. Du musst die Kamera einfach vergessen.«
Er fotografierte ihre Hände, zuerst die linke, mit der sie sich auf der Arbeitsfläche abstützte, dann die rechte, in der sie ein weiches Tuch hielt, um jetzt die Herdplatten zu polieren.
»Willst du auch noch aufnehmen, wie ich mir die Hände wasche?«
Sie lachte und er fing dieses Lachen ein, das sie um Jahre jünger machte. Doch, dachte er, du bist schön. Vor allem, wenn du lachst. Du weißt es bloß nicht.
Fotografieren ist ein Akt äußerster Konzentration
, hatte er in Stauffers Buch gelesen, dessen durchweichte Seiten zwar trocknen, sich jedoch nie wieder glätten würden. Hoffentlich war es nicht zu teuer gewesen, denn er musste es Stauffer ersetzen.
Marlon folgte seiner Mutter in den Keller, fotografierte sie, wie sie vor der Waschmaschine kniete und Kochwäsche einfüllte, folgte ihr die Treppen hinauf und in die Schlafstube. Man erkennt die Menschen vor allem an den Händen und daran, was sie mit ihnen tun, dachte er. Und an den Augen. Es gibt lebendige und tote Augen. Schon die Augen eines Kindes können leblos sein.
In der Schlafstube war es kalt. Sie lag nach Norden und das Fenster wurde von einem riesigen roten Haselnussstrauch verdunkelt. Die Mutter zog die Betten ab und Marlon fotografierte ihre hochgereckten Arme.
Plötzlich waren die
Betenden Hände
über ihrem Haar, fast so, als wollten sie sich in Erinnerung bringen. Marlon drückte auf den Auslöser und ließ die Kamera sinken.
»Was hast du, Marlon? Du bist auf einmal ganz blass.«
»Das macht bestimmt nur die Lampe.«
Die Lampe? Diese kraftlose Funzel über dem Bett, deren Licht nicht mal bis zu den Wänden reichte?
»Das Bild da, Mama, woher habt ihr das?«
»Die
Betenden Hände
?« Sie sah verwundert zu dem Bild und dann wieder zu Marlon. »Das war ein Hochzeitsgeschenk. Von wem, weiß ich nicht mehr. Was ist damit?«
»Ich fand es immer irgendwie unheimlich«, sagte Marlon.
»Am Beten ist doch nichts Unheimliches.« Sie betrachtete das Bild und legte den Kopf schief. »Ich habe das Bild immer... rechtschaffen gefunden.«
Rechtschaffen.
»Es hat dich nie beunruhigt?«
»Beunruhigt? Nein. Es hat mich eher getröstet. Bist du mit dem Fotografieren fertig?«
Marlon sah auf die Uhr. Es war Zeit, sich zum Melken umzuziehen. Er gab seiner Mutter einen Kuss. »Danke, Mama.«
»Schon gut.«
An der Tür drehte Marlon sich noch einmal nach dem Bild um. Obwohl kein Strick diese Hände fesselte, sah er ihn und bedrückt fragte er sich, welche Art von Messer scharf genug wäre, ihn zu zerschneiden.
Beim Abendessen hatte Jana Aufsicht am Kindertisch. Schon ein paar Mal hatte La Lune zu ihr herübergesehen. Jana war ihrem Blick ausgewichen.
La Lune hatte die Kinder des Mondes gleich am Morgen nach Maras und Timons Flucht, noch vor dem Gebet, über das Verschwinden zweier ihrer
über alles geliebten Kinder
informiert.
Einige hatten sich entsetzt die Hand vor den Mund gehalten. Die meisten hatten betroffen den Blick gesenkt.
La Lune hatte Mara und Timon zärtlich mit verirrten Schafen verglichen, die man suchen und in den Schutz der Gemeinschaft zurückholen müsse. »Die Welt da draußen ist eine tödliche Gefahr für sie«, hatte sie gesagt. »Ich bitte euch alle, mir zu helfen, sie wieder zu finden.« Sie hatte das Gebet gesprochen und die Mondheit um Erleuchtung angefleht.
Und dann hatte sie sich vor aller Augen gegeißelt, um die Schuld ihrer
verlorenen Kinder
auf
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