Das blaue Siegel
dem er Sir Reginald die Hirnschale zerschlägt!«
»Mr. Gowers, bitte!«, sagte Richter Trevelyan, als Lady Wedderburn mit ersten Anzeichen eines Schwächeanfalls ein wenig zusammensackte. »Und lassen Sie gefälligst Mr. Mukho…«
»…padhyaya!«, klang es dumpf aus Gowers’ Umarmung. »Das ist unsinnig!«, sagte der Anwalt, als er sich schließlich befreit hatte, und ließ offen, ob er die Ermittlungen der Polizei oder die handgreifliche Beweisführung seines Klienten meinte.
»Und Ihre Version?«, fragte der Richter.
»Wedderburn hatte die Wohnung für den Jungen gemietet, Sir. Er war sein Geliebter.« Lady Wedderburn warf ihm einen hasserfüllten Blick zu. »Aber der Bursche hatte offensichtlich noch andere Kunden. Mindestens einen anderen, denn dieser Mann muss ihn erstochen haben, vielleicht aus Eifersucht. Der Mörder hatte dem Jungen eben die Kleider wieder angezogen, als Sir Reginald vor der Tür stand. Er versteckte sich, begreiflicherweise.«
»Sir Reginald?«, fragte Trevelyan und zog an einem Haarbüschel in seinem rechten Ohr.
»Nein, der Mörder«, sagte Gowers. »Sir Reginald findet die Leiche seines Geliebten und umarmt ihn.« Er breitete die Arme aus, und Mukhopadhyaya rückte instinktiv ein wenig zur Seite. »Vielleicht stirbt der Junge auch erst in seinen Armen, wer weiß. Diesen Moment benutzt jedenfalls der Mörder, um auch Wedderburn zu erschlagen.«
»Haltlos, unbewiesen und beleidigend!«, schnaubte Colonel Outram. »Dem steht der schon erwähnte Umstand entgegen, dass dieser Bursche nicht kastriert war!« Auf ein ratloses Stirnrunzeln des Richters fügte er erläuternd hinzu: »Derartige … äh … Dienstleistungen werden in Indien bekanntlich ausschließlich von … von Eunuchen erbracht, Euer Ehren!«
»Das ist durchaus nicht zwingend«, entgegnete Mukhopadhyaya, wusste aber dann im Hinblick auf die anwesende Lady nicht, wie er fortfahren sollte. Gowers teilte derartige Bedenken nicht und erklärte kurz, aber deutlich, warum die nicht kastrierten jungen Männer für ihre sexuellen Dienste sogar einen höheren Preis verlangen konnten als die Eunuchen.
»Man müsste ihn also eher den Liebhaber nennen«, sagte er in die immer unangenehmer werdende Stille, in der James Oswin Trevelyan mit seinen Zupfbemühungen schließlich bei den Haaren in seiner Nase angelangt war. »Das ist allerdings eine Information, für die auch ich keinen roten Heller zahlen würde!«, zischte er böse.
14.
McClure erwachte aus immer demselben scheußlichen Traum: ein riesiger Eisberg im Morgennebel und auf ihm zwei gestrandete Schiffe, dicht beieinander. Bis auf ein paar zerbrochene Stengen und Spieren fast unversehrt, als habe eine gigantische Welle sie hochgehoben und sei unter ihnen zu Eis erstarrt. Das kleinere von beiden lag schwer auf der Seite und schien nahe daran abzurutschen. Loses Takelwerk hing hinunter in die grabkalte See, gefrorene Taue, zerrissene, eisverkrustete Segel.
Auch aus drei Meilen Entfernung waren sie deutlich auszumachen: Glattdecker, die Rümpfe schwarz, die Masten weiß, um die dreihundertfünfzig Tonnen und im Verhältnis zur Länge sehr breit – McClure kannte diese Schiffe! Der eisenbeschlagene Bug, die fehlenden Rahen am Kreuzmast; er war 1837 als Maat auf der Terror gefahren, als Commander George Back ebendiese Takelung für die britischen Eisfahrer einführte. Die Schiffe waren verlassen, keine Boote zu sehen, weder an Bord noch auf dem Eis. Wo war die Mannschaft?
Dies war das Bild und die Frage, die ihm den Schlaf raubten, fast jede Nacht, bis hinunter nach Feuerland. Es war nur eine kurze Meldung gewesen, in der letzten Zeitung, die sie in Plymouth an Bord nahmen; er hatte sich bemüht, die Notiz vor den Männern geheim zu halten, aber das Gerücht von ihr ging dennoch um. Die Nachricht kam von der Brigg Renovation , Passagierschiff von Quebec nach Limerick/Irland. Nahe der Neufundlandbank hatten einige Leute, Passagiere, aber auch der Steuermann, im Morgengrauen den Eisberg mit seiner schaurigen Fracht vorüberziehen sehen. Die Geisterschiffe blieben fast eine Dreiviertelstunde in Sicht, und die Renovation wollte eben näher herangehen, da wurde das unheimliche Gebilde vom Novembernebel des Nordatlantiks verschlungen.
Das war möglich. Eisberge kamen auf dieser Route vor, wenn auch selten in solcher Größe. Aber McClure war im Norden gefahren und kannte die furchterregenden Ausmaße, die diese weißen Ungeheuer erreichen konnten. Er hatte gesehen,
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