Das blaue Siegel
hauptsächlich weil er sich ausrechnete, dass in Gowers’ gegenwärtigem Zustand sogar auf den – selbstverständlich illegalen – Sklavenmärkten von Delhi kein adäquates Geschäft mit ihm zu machen war. Aber als feinfühliger Mensch sagte er das natürlich nicht.
Der Investigator ließ sich nicht nur den Bart, sondern auch den Schädel komplett rasieren und saß dann zwei Stunden lang in einem hölzernen Badezuber, die Pfeife zwischen den Zähnen und seine Kleider auf einem Brett in Brusthöhe vor sich. Mit aller gebotenen Sorgfalt, wenn nicht gar mit Genuss, suchte er die kleinen schwarzen und braunen Quälgeister einzeln ab und steckte sie rachsüchtig in den Pfeifenkopf, wo sie lustig knisternd ihrem Schöpfer gegenübertraten.
Nach diesem Autodafé, das keinen spanischen Inquisitor mit größerem Behagen hätte erfüllen können, ließ er seine Sachen ausbürsten und beschäftigte sich noch eine weitere Stunde mit der Körperwäsche. Er kam sich hinterher fast unmenschlich sauber vor und hätte jetzt nur noch ein paar Pints Rum gebraucht, um sich auch von innen zu reinigen. Das aber war in Delhi, mit seiner vorwiegend muslimischen Bevölkerung, nicht so einfach.
Gowers trat praktisch als neuer Mensch auf die Straße, auf dem kahlen Schädel die Offiziersmütze der Nordstaaten, unter die er ein Taschentuch gelegt hatte, das als Sonnenschutz seinen Nacken bedeckte. Das dunkle Blau des alten Schirmdeckels war inzwischen so verblichen, dass er damit bequem auch unter Robert E. Lee hätte kämpfen können. Es war aber nicht so sehr diese Aufmachung, die ihm in den wimmelnden, heißen Basaren rund um das Kaschmir-Tor die überraschten Blicke der Einheimischen zuzog, sondern die bloße Tatsache, dass er da war. Um diese Zeit!
Er brauchte eine Weile, um es zu durchschauen, aber dann wurde ihm klar, dass er seit Stunden keinen Weißen mehr gesehen hatte. Die Anhörung hatte um sechs Uhr morgens stattgefunden und etwa anderthalb Stunden gedauert. Sie waren danach in die Stadt gegangen, er hatte ausführlich gebadet, war dann ziellos herumgelaufen, und nun war Mittag. Keine Zeit für Weiße. Er fühlte es selbst, spürte die Schweißbäche, die sein Rückgrat entlangliefen; zuerst hatte er gedacht, er hätte sich nicht gründlich genug abgetrocknet.
Mit dem Privileg des Weißen ging er in die St. James Church, die einzige englische Kirche und einer der kühlsten Plätze der Stadt. Ohne von einem Priester oder Kirchendiener belästigt zu werden, las er dort ein wenig in den beiden Büchern, die er aus seinem Reisesack nahm: die Canterbury Tales und Fieldings A Journey from This World to the Next , und nickte zeitweise über der mehr als bekannten Lektüre ein.
Er erwachte, weil er Hunger hatte, und stopfte seine Pfeife mit den allmählich zur Neige gehenden Tabakbeständen aus Van Helmonts Nachlass. Es war später Nachmittag, und vereinzelt wagten sich jetzt wieder Engländer auf die Straße. Außerhalb des Agra-Tores sah er zu, wie eine alte Tabakverkäuferin, so vertrocknet wie ihre Ware, eine Zigarre drehte, und er wusste, dass er bald ein Problem haben würde. Die Alte saß auf einem Brett über einem Abzugsgraben, ihr Tabak lag in kleinen Büscheln vor ihr am Rand der Straße, wo der Staub des Verkehrs am dichtesten war. Sie zerrieb eines davon in einem schmutzigen Tuch auf ihrem Schoß, wobei sie mehrfach in die Hände spuckte, zum Befeuchten dann aber doch die Flüssigkeit aus dem unter ihr fließenden trägen Bach schöpfte. Verfeinert mit etwas Kalk, ein paar undefinierbaren Tropfen aus einer schmutzverkrusteten Bierflasche und einer Prise getrockneter Tamarinde rollte sie die entstandene Masse geschickt in ein getrocknetes Blatt ein, das ihr Kunde, ein fast völlig nackter, dunkelhäutiger Kuli, sogleich mit großem Genuss in Brand setzte. Dann lieber Läuse, dachte Gowers und machte sich auf den Weg in die Vorstadt Talewarah, wo der einzige Mensch wohnte, den er in der nach Hunderttausenden zählenden Metropole kannte.
Es war gegen acht Uhr abends, als er bei Mukhopadhyaya ankam, aber etwas Ungewöhnliches musste geschehen sein in diesen zwölf Stunden, denn Gowers hatte mit vielem gerechnet, als er an die niedrige Tür klopfte, nur nicht damit, dass er empfangen würde wie ein Prinz. Die hübsche, sehr kleine und etwas rundliche Mrs. Mukhopadhyaya, rein äußerlich das genaue Gegenteil ihres Mannes, zog ihn lächelnd herein und machte sich sogleich an die Zubereitung eines fürstlichen
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