Das blaue Siegel
stapften im Sommer 1854 nach und nach rund zweihundertfünfzig pflichtgetreue britische Seeleute aus nahezu allen Himmelsrichtungen über die endlose eisige Ebene, die sich auch in diesem Jahr nicht aufgelöst hatte.
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Als Anfang des 19. Jahrhunderts erste Überlegungen darüber angestellt wurden, die dampfgetriebenen Schienenfahrzeuge, die sich vor allem beim Lastentransport der Schwerindustrie und des Kohlebergbaus so glänzend bewährt hatten, auch für den Personentransport einzusetzen, fehlte es nicht an warnenden Stimmen.
Die technischen Schwierigkeiten seien unüberwindlich, die Risiken, etwa die Unfallgefahr, zu hoch und die Auswirkungen auf den menschlichen Organismus unabsehbar. Man fürchtete insbesondere eine zunehmende Verweichlichung der Gesellschaft, die über kurz oder lang vielleicht sogar das Gehen verlernen könnte, zumindest aber die Fähigkeit und Zähigkeit verlieren würde, Wind und Wetter zu trotzen. Wer die Welt nicht unter die eigenen Füße nähme, verlöre bald auch jeden Bezug zu ihr; man könne keine Landschaft, keine Natur genießen, die mit dreißig oder gar vierzig Kilometern pro Stunde an einem vorüberrase! Dazu das seelische Problem, keinen Einfluss mehr auf die eigene Fortbewegung zu haben, gleichsam ein menschliches Paket zu sein, das man an der einen Station aufgibt und an der anderen abliefern lässt. Kurz gesagt waren es die gleichen Argumente, die besorgte Kritiker hundert Jahre früher auch schon gegen den Personentransport im Postkutschenverkehr vorgebracht hatten.
Weggewischt wurden diese alten Bedenken jedoch von einer gänzlich neuen Begeisterung einiger Philosophen an den sozialen Folgen, die der Eisenbahnverkehr zwangsläufig mit sich bringen müsse. So wie Saint-Simon in der industriellen Fertigung von Gütern und Waren das Ende der Klassenprivilegien sah, so betrachteten seine Schüler die Eisenbahnreise, also das gemeinsame, unterschiedslose Bewegtwerden aller durch die unerhörte Energie und Produktivität der Dampfkraft, als eine Aufhebung der Klassen an sich. Die Dampflokomotive, die niemanden langsamer oder schneller machte als den anderen, die auch den Schwachen nicht zurückließ, würde die überlebte Feudalgesellschaft endgültig in den Abgrund der Geschichte ziehen.
Alle Ansätze, das zu verhindern, waren lächerlich: all die kleinen Barone, die versuchten, ihre hochherrschaftlichen Kutschen auf Eisenbahnschienen zu setzen, die ihre eigenen, privaten Waggons kaufen und nach Lust und Laune an die öffentlichen Züge anhängen wollten. Von derlei verschrobenen Ideen überlebte nur eine einzige: der Privat-, Salon- oder Staatswagen der Kaiser und Könige. Aber auch der war eigentlich nur eine Sonderform der Staatskarrosse, die an den egalitären Tatsachen der Eisenbahn wenig ändern konnte. Auf Reisen mussten die Majestäten mit dem gleichen Dampf vorliebnehmen, der auch den gemeinen Mann an sein Ziel beförderte. Das war aber auch schon alles, was die Eisenbahn, zumindest in Europa und im Zeitalter der Restauration, an Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit hervorbrachte, denn wie alles in der Menschheitsgeschichte war auch ihre Erfindung und Entwicklung den ewigen Gesetzen von Kosten und Nutzen unterworfen.
John Gowers hatte als Junge den ersten Schienenstrang gesehen; er war bereits steinalt gewesen. Schon 1767 hatte man in den Kohlerevieren von Northumberland mit der Verlegung gusseiserner Schienen begonnen, und ehe man an einsatzfähige, dampfgetriebene Lokomotiven auch nur denken konnte, existierten dort bereits dreihundert Meilen Schienennetz, auf denen Pferdewagen die enormen Mengen von Kohle bis an die Flüsse und Kanäle transportierten, wo sie umgeladen und weiterverschifft wurden. Seitdem 1813 die erste Grubendampflokomotive, die Puffing Billy , ihre Arbeit aufnahm, war die weitere Entwicklung ein bloßes Rechenexempel.
Wie viele Pferde ersetzte die Lokomotive an Kraft und Geschwindigkeit? Was fraßen die Pferde, was fraß die Lokomotive? Wo stand der Preis für Futtermittel und ihren Antransport aus den entsprechenden Anbaugebieten? Hoch! Was kostete Kohle? Nichts. Jedenfalls nicht die Grubenherren. Es dauerte von da an nicht Jahre, es dauerte nurmehr Monate, bis die jahrhundertelange industrielle Nutzung von Pferdefuhrwerken Geschichte war. Von den Kohlerevieren breitete sich diese simple Rechnung über ganz England aus, und wer als Schwerindustrieller sein Geld gestern noch in den Ausbau schiffbarer Kanäle gesteckt hatte,
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