Das blaue Siegel
geschah auf dem ersten Teil ihrer Reise nicht viel. Je zehn Männer lagen, bis zum Hals eingerollt in ihre Schlafsäcke, in einem Zelt, sodass sie es eng, aber warm hatten und jede Drehung untereinander absprechen mussten. Den schweren Tritten vor seinem Zelt maß Sergeant Woon zunächst keine große Bedeutung bei, da er glaubte, ein Mann aus einer der anderen Gruppen mache sich an den Schlitten zu schaffen. Er fragte sich bloß, warum dieser Idiot derart schnaufte und wann er wohl zur Ruhe kommen würde, denn das Scharren und Rascheln hinderte ihn daran einzuschlafen. Nun streckte der Kerl auch noch seinen Kopf durch den nur nachlässig verschlossenen Zelteingang, und Woon öffnete die Augen, um ihm die passenden Worte zu sagen!
Die hätte der junge, sehr dünne Eisbär aber auch dann nicht verstanden, wenn der Sergeant in dieser ebenso gefährlichen wie komischen Situation welche gefunden hätte. Zehn Mann, die sich kaum regen konnten, bis zum Hals in ihren Schlafsäcken, gewissermaßen angerichtet – wie Woon es später ausdrückte – wie Kohlrouladen auf einer Servierplatte; der Bär schien sein Glück kaum fassen zu können, und das gab dem tapferen Sergeanten Gelegenheit, nach seinem Gewehr zu greifen. Aber noch ehe er anlegen und zielen konnte, löste sich bereits der Schuss, traf nicht den Bären, sondern die Zeltleine, sodass die Männer in einem wirren Knäuel aus klammer Leinwand, Wollschlafsäcken, fremden Gliedmaßen und Eisbär erwachten. Glücklicherweise hatten in den anderen Zelten auch noch nicht alle geschlafen, wodurch der Bär erlegt werden konnte, ehe er größeren Schaden hinterließ als einen Heidenschrecken, einen düpierten Meisterschützen und ein demoliertes Zelt.
Miertsching hatte ein ganz anderes Problem. Da er seinen Bart vier Jahre lang nicht geschoren hatte, gingen die Haare durch die gefrierende Atemluft immer wieder eine schier unlösliche Verbindung mit der Wolle seines Schlafsacks ein. Da ihm aber schlecht zugemutet werden konnte, mit einem Schlafsack am Kinn durch die arktische Wildnis zu stapfen, setzte seine ganze Zeltgemeinschaft ihre kurzen Tonpfeifen in Brand, um den Missionar mit dem heißen Rauch von seiner unangenehmen Last zu befreien. Das sorgte vor jedem Aufbruch für erhebliche Heiterkeit – außer bei Miertsching selbst, der kein Raucher war, jedes Mal fast erstickte und beschloss, sich baldmöglichst und da man sich nun ja wieder der Zivilisation annäherte, von dem hier und da bereits halbmeterlangen Mannesschmuck zu trennen.
Am elften Tag ihrer Reise erreichten sie Kap Hotham am westlichen Eingang des Wellington-Kanals. Hier begegneten sie einer Schlittengruppe, die aus dem Norden, von den eingefrorenen Schiffen Assistance und Pioneer, kam. Kein anderer als Commander McClintock hatte den Oberkommandierenden, Sir Edward Belcher, besucht und war mit bestürzenden Befehlen auf dem Rückweg zu Kapitän Kellett. Belcher, nach dem zweiten Winter im Eis offenbar mit den Nerven am Ende, hatte angeordnet, Resolute und Intrepid aufzugeben und die Mannschaften beider Schiffe ebenfalls nach Beechey Island und auf die Northstar zu bringen.
»Da werden wir uns aber gegenseitig ganz hübsch auf den Zehen herumstehen!«, entfuhr es McClure, der sich eine gewisse Schadenfreude nicht verkneifen konnte, dieses Gefühl aber auch rasch wieder unter Kontrolle brachte. Tatsache war, dass die Northstar , das kleinste Schiff von Belchers Geschwader, bereits zwei Schiffsmannschaften beherbergte, seit im Sommer des letzten Jahres die Breadalbane , ein Post- und Versorgungsschiff, in weniger als einer halben Stunde vom Eis zerdrückt worden war. Die Crew der Investigator würde in wenigen Tagen die dritte Mannschaft an Bord der Northstar sein; die Männer von Resolute und Intrepid also die vierte und fünfte! Wie lange konnte man dieses Spiel fortsetzen, ohne dass das Schiff sank?
»Er spricht davon, auch Assistance und Pioneer aufzugeben«, vertraute McClintock seinem Kollegen McClure unter vier Augen an. Nahezu fassungslos schüttelte der charmante junge Offizier den Kopf. »Vier Schiffe im Eis lassen – das wäre der katastrophalste Rückzug seit Napoleons Übergang über die Beresina!«
Keiner der beiden Männer sagte, was er dachte, aber mit so vorsichtig-vielsagenden Blicken, wie sie nur Armeeangehörige wechseln und verstehen können, fragten sie einander bereits, ob und wie man einen so unfähigen Oberkommandierenden absetzen könne.
127.
Edward Belcher,
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