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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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diesen – angesichts dreier weiterer Angreifer ziemlich vorübergehenden – Triumph allein einem ziemlich gemeinen Fußtritt zu verdanken hatte. »Tut mir leid, Sir!«
    »Mir auch«, sagte Kellett und fügte mit anerkennendem Nicken hinzu: »Guter Mann, Latimer!«
    »Gentlemen, Sie sehen aber selbst, dass auch Mr. Gowers hier einiges abbekommen hat«, warf McClure ein. »Was wollen wir also in der Sache unternehmen?«
    »Ich will diesen miesen kleinen Zuhälter jedenfalls nicht mehr auf meinem Schiff sehen!«, erregte sich McClintock erneut.
    »Müssen Sie auch nicht«, erwiderte Kellett leichthin. »Zwei Wochen im Kabelgatt der Resolute werden sowohl für seine Wunden als auch für seine Moral heilsam sein, denke ich. Und danach …« Er wandte sich jetzt an McClure. »Na, darüber reden wir noch! Alle einverstanden?«, fragte er dann in die kleine Runde, und die Kapitäne nickten.
    »Abtreten!«, blaffte McClure seinen ehemaligen Schiffsjungen an.
    »Nein, warten Sie! Der Bursche soll das ruhig sehen!« Kellett holte eine Kiste mit Zigarren hervor und beschnitt persönlich die Spitzen, eher er sie seinen Kapitänen anbot. Als alle versorgt waren, hielt er die Fotografien einzeln in die offene Flamme einer Petroleumlampe und gab ihnen mit den noch einmal jäh aufflackernden schwarz-weißen Lustmädchen Feuer. Lachend, auch über das dumme Gesicht des Jungen, bliesen die drei Männer den Rauch an die Decke der Kajüte und gingen davon aus, dass sich damit diese unerfreuliche Affäre in nichts aufgelöst hätte. Sie sollten sich täuschen.
     

126.
     
    Seine jetzt schon vier Jahre währende Untätigkeit zermürbte Johann August Miertsching allmählich, und sein Tagebuch füllte sich mit Klagen, die er freilich immer noch mit Ausdrücken seiner Ergebenheit in den unergründlichen Willen Gottes abschloss. Anders als an Bord der Investigator , wo ihn die Männer zuletzt akzeptiert, ja sogar respektiert hatten, galt er für die Mannschaften von Resolute und Intrepid als eine Art kurioser Passagier, als bloßer Ballast, der nur durch eine unglaubliche Verwirrung in der Befehlskette in diese Breiten geraten war. Anfangs, auf Dealy, hatte er zumindest noch seinen Wert als Jäger beweisen können, aber nach mittlerweile sechs Monaten im geschlossenen Meereis wollte sich an seine diesbezüglichen Erfolge offenbar niemand mehr erinnern.
    Als Anfang April 1854 ein Postschlitten von der Northstar kam und für jeden der hundertsiebzig Männer Briefe aus Europa mitbrachte – mit zwei Ausnahmen, nämlich dem Matrosen John Gowers und ihm –, war die Moral und Stimmung des Missionars auf dem absoluten Nullpunkt angelangt. Er fühlte sich nicht nur nutzlos, sondern auch unerwünscht in der Welt, und ging in seinem Journal vom Klagen zum Hadern über. Erst als McClure den Befehl Kelletts bekannt gab, die Mannschaft der Investigator würde Mitte April über das Eis zur Northstar und nach Beechey Island gehen, und Miertsching von Kapitän Kellett ein außerordentlich schmeichelhaftes Zeugnis erhielt, war der Frieden seiner Seele wiederhergestellt.
    Der Abmarschbefehl beseitigte auch alle anderen Animositäten, die sich im Verlauf und vor allem gegen Ende des Winters unter den Leuten eingestellt hatten. Wie bei einem Verwandtschaftsbesuch, der nach Ausdehnung in die eben noch vertretbare Länge doch irgendwann glücklich zu Ende geht, versicherten sie sich gegenseitig ihres Wohlwollens und ihrer besten Wünsche. Miertsching weinte beinahe vor Stolz und Beschämung, als er durch Zufall ganz zuletzt doch noch den Spitznamen erfuhr, den die übrigen Matrosen schon seit Monaten für die Crew der Investigator gebrauchten: die Pietisten – und Davy Jones!
    Davy Jones war nach den zwei Wochen im Kabelgatt der Resolute gar nicht noch einmal an Bord der Intrepid zurückgekehrt, da der Abmarsch nach Beechey Island ohnehin kurz bevorstand. Zum zweiten Mal waren sie jetzt ohne Schiff und bezeichneten sich untereinander bereits als »die Beduinen der weißen Wüste«. Das Wetter war unangenehm windig, aber das Eis weitgehend flach, die Marschverpflegung ausreichend und vor allem – jeder Schritt brachte sie nun näher nach Hause. Nach je fünf Stunden Marsch verbrachten sie sieben Stunden in den Zelten, sodass sie in vierundzwanzig Stunden jeweils zweimal marschierten und zweimal ausruhten; eine Einteilung, die sie ohne allzu großen Kraftverlust sehr gut vorankommen ließ.
    Abgesehen von dem höchst unwillkommenen Besuch eines Eisbären

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