Das blaue Siegel
die ersten Kommentare der alten Hasen zu dem Geschehen auf dem Course machten Gowers klar, warum er so problemlos eingelassen worden war und wen er hier vor sich hatte.
Indien war für die bürgerliche englische Gesellschaft das, was Outremer und die Kreuzzüge für den europäischen Feudaladel des Mittelalters gewesen waren. Dorthin wurden die Unruhigen geschickt, die Hungrigen und die Gestrauchelten: zweite oder dritte Söhne ohne Erbberechtigung, wilde, hier und da zu wilde Burschen, die im Mutterland ständig über die Stränge schlugen, Skandale machten, ohne Aufstiegschancen blieben und irgendwann zumindest familiäre Revolutionen angezettelt hätten. Sollten sie in den Kolonien ihre eigenen kleinen Königreiche erobern, Vermögen machen, Familien gründen!
All diese alten Männer hatten eines fernen Tages auf die Etikette und die Traditionen ihrer Familien und des Königreiches gepfiffen und waren hinausgezogen, um ihren Platz in der Welt zu finden. Geblieben waren ihnen davon heute nur noch ihre Arroganz und die gewisse Primitivität ihrer Pionierjahre. Gleichzeitig waren sie und ihre Geschäfte aber auch der Grund für die Anwesenheit der britischen Armee in Indien; sie waren der Vorwand für die Eroberung des Subkontinents, das allmähliche Abwürgen einer jahrtausendealten Kultur, die Niederschlagung der großen Meuterei und all die Verwirrung, Entrechtung, das Leid eines besetzten Landes, denen Gowers auf seinem Weg begegnet war.
130.
Edward Montagu Hall war noch einer der muntersten unter diesen Kolonialgreisen und schien hocherfreut, dass noch einmal jemand etwas von ihm wissen wollte.
»Setzen Sie sich doch, junger Mann. Trinken wir was! Boy!«
»Es ist noch zu früh für mich, vielen Dank, Sir«, sagte Gowers, als der Diener ein Tablett mit einer ganzen Flasche schottischem Maltwhisky und zwei Gläsern auf ein niedriges Tischchen zwischen ihn und seinen Zeugen stellte.
»Ich erinnere mich!«, rief in diesem Moment völlig unvermittelt einer der Greise rechts von Hall, ließ aber völlig offen, was dabei gerade in seinem Kopf vorging.
»Tun Sie einem alten Mann den Gefallen und trinken Sie, Junge!«, erwiderte Hall. »Danach können Sie von mir aus den Rest Ihres Lebens abstinent leben.«
Der Investigator hob also widerstrebend sein Glas, und der alte Mann sagte mit dünner Stimme: »Rosenlippenmädchen! Leichtfüßige Jungs!«
Der Mann in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft, einer aus der Rollstuhlfraktion, begann bei diesen großen Worten in seinen Bart zu kichern. Hall wurde wütend und sagte gereizt: »Bob Hickey, wenn ich sechsundachtzig wäre und nur einmal in der Woche richtig pinkeln könnte, würde ich mich raushalten, wenn Männer trinken. Würde mich raushalten und mich auf meine Blase konzentrieren!«
»Ich erinnere mich!«, tönte es wieder von rechts.
Flüsternd beugte sich Hall zu seinem Besucher hinüber. »Ich bin vierundneunzig, Junge, aber mit den Knochen von diesen Langweilern da werde ich noch allemal in die Birnen schmeißen! Was kann ich also für Sie tun?«
»Ich brauche Informationen über Charles Mordaunt«, sagte der Investigator.
»Charlie Mordaunt, ja«, erwiderte Hall nach kurzem Überlegen. »Ist auch schon eine Weile hinüber, wie?!«
»Ja, Sir«, bestätigte Gowers. »Was wissen Sie über ihn?«
»War mein Nigger, für lange Jahre. Kein übler Bursche, gar nicht übel. Aber machte zu viel mit den Niggermädchen herum, wenn Sie mich fragen. Hatte einfach nicht genug Klasse, der Kerl.«
»Aber ausgekauft hat er dich trotzdem, nicht wahr, Hall?!«, warf Bob Hickey ein, ohne sich zu ihnen umzuwenden.
»Weil ich mich hab auskaufen lassen, Hickey. Was meinst du, wie der geblutet hat?!«
»Ich erinnere mich!«
»Mordaunt hat also zuerst für Sie gearbeitet?«, fragte Gowers.
»War mein Nigger, jawohl!«
»Er hat dich rausgedrängt, Hall«, sagte Hickey. »So einer bist du schon immer gewesen: einer, den man rausdrängt.«
»Konzentrier dich auf deine Blase, Hickey!«
»Sag ihm doch, dass du keinen Cent mehr hast, Hall. Dass du pleite bist! Vielleicht spendiert er dir dann ein Mittagessen …«
»Ich hab eben gelebt, Hickey.« Wieder beugte sich Edward Montagu Hall zu Gowers hinüber und sagte hinter vorgehaltener Hand: »Es gibt nichts Dümmeres als einen toten Millionär, Junge !«
»Woher hatte Mordaunt das Geld, um Sie auszukaufen, Sir?«
»Hat reich geheiratet, soviel ich weiß. War mir aber egal, woher er’s hatte. Hauptsache, ich
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