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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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investierte spätestens in die Eisenbahn, nachdem die Rocket der beiden Stephensons, Vater und Sohn, 1829 auf der Strecke Liverpool – Manchester den sagenhaften Geschwindigkeitsrekord von siebenundvierzig Stundenkilometern aufgestellt hatte.
    Dass ein Jahr später auf der gleichen Linie auch der Personenverkehr eröffnet wurde, lag nicht etwa daran, dass diese Städte schöner, kulturell interessanter und politisch bedeutender gewesen wären als etwa London und Oxford, aber die eine besaß einen Industriehafen und die andere die größte Ansammlung von Fabriken der Tuch- und Metallindustrie, die die Welt bis dahin gesehen hatte. Eisenbahnen wurden also zuallererst immer dort gebaut, wo große Lasten zu geringen Preisen bewegt werden sollten.
    Das war in Indien zunächst nur in den Hafenstädten Bombay, Madras und Kalkutta der Fall. Erst nach der Niederschlagung der großen Rebellion schien der Subkontinent sicher genug, um in eine Eisenbahnlinie zu investieren, die auch die Binnenstädte mit den Häfen verband. Die Meuterei hatte ebenfalls schmerzhaft deutlich gemacht, wie wichtig es für die Kolonialmacht war, ihre Truppen schnellstmöglich von einem zum anderen Ende des riesigen Landes transportieren zu können. Die Bahnstrecke Benares – Kalkutta, in einer einzigen fünfhundert Meilen langen Kurve dem Lauf des Ganges folgend, war deshalb noch eine relativ neue Bequemlichkeit, als Gowers die entsprechenden Fahrkarten erwarb – und zum ersten Mal sah, wie gründlich sich die Saint-Simonisten in der Eisenbahn getäuscht und wie komisch sie dennoch recht behalten hatten.
    Die Klassenunterschiede zwischen den Reisenden waren keinesfalls aufgehoben, sie hatten nur die Nummern eins bis vier erhalten. Zwar hatte man keine Privatkutschen auf Schienen gestellt, aber doch mit den Erste-Klasse-Abteilen abgeschlossene kleine Welten des Reisekomforts geschaffen, die keinerlei Verbindung untereinander oder zum Rest des Zuges, ja nicht einmal Plattformen hatten. Nur an den Stationen konnte man problemlos von einem Abteil zum anderen gelangen. Während der Fahrt war dies lediglich über die außen angebrachten Trittbretter möglich; ein Umstand, der jedes Jahr mehrere Zugbegleiter das Leben kostete.
    In der zweiten Klasse gab es Großraumwagen mit gepolsterten Bänken und einem Mittelgang. Die dritte oder Holzklasse ähnelte Viehwaggons, hatte aber zumindest noch Sitzbänke. Erst in der vierten Klasse saß man in offenen Wagen, manchmal auf bloßen Plattformen auf dem eigenen Gepäck, auf dem Boden oder den Gliedmaßen eines Mitreisenden. Das Komische daran war, dass die erste Klasse sich keiner besonderen Beliebtheit erfreute, sondern sogar Millionäre lieber in der zweiten und sogar dritten Klasse reisten.
    Das lag zum einen daran, dass die Erste-Klasse-Abteile als Eldorado für Räuber und andere Übeltäter galten, die die Reisenden zwischen den Stationen völlig ungestört, ja unbemerkt ausplündern, vergewaltigen oder ermorden konnten. 9 Zum anderen hatten die luxuriös gepolsterten, in sich geschlossenen Abteile keine Toiletten, nicht einmal die in der zweiten und dritten Klasse üblichen kleinen Holzverschläge – was dazu führte, dass die Welt, zumindest die am Schienenstrang lebende Landbevölkerung, häufig genug auch die Kehrseiten des Luxus zu sehen bekam. Tatsächlich war man in der ersten Klasse seinen Mitreisenden und seinen Bedürfnissen ähnlich hilflos ausgeliefert wie in der vierten; was Saint-Simon womöglich gefreut hätte.
    John Gowers, nur noch in der Gesellschaft von Ishrat, genoss hingegen für die gesamte rund dreißigstündige Reise den Komfort der Abgeschiedenheit, den Blick auf atemberaubende Landschaften und gleichzeitig alles, worauf er als Asket seit etwa zwei Wochen verzichtet hatte. Schade nur, dass er mit seiner dick bandagierten rechten Hand nichts fühlen konnte.
     

129.
     
    Keine Krokodile und Königinnen, düsteren Türme, verfallenden Paläste, nackten Heiligen – stattdessen ein Handelsregister, ein Grundbuchamt und endlich wieder die normale Ermittlungsarbeit in einer zivilisierten Stadt.
    Im Gegensatz zu den beiden anderen großen Einfallstoren der Europäer in Indien, der Portugiesen in Bombay und der Franzosen in Madras, war Kalkutta eine Gründung der Engländer und von Anfang an in britischem Besitz. Am Tank Square, mit seinem großen Trinkwasserreservoir, sah Gowers sogar noch die Reste des alten Fort William – so der ursprüngliche Name der Stadt –, von

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