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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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Kampf so plötzlich endete, wie er begonnen hatte.
    »Ishrat!«, rief die Königin von Delhi leise, und Gowers fühlte, wie sich das gerade noch so tödlich-starke Wesen in seinen Händen ein wenig entspannte. Ebenso vorsichtig lockerte er seinen eigenen Griff, und sehr behutsam lösten sie sich voneinander. Nur ihre Augen fochten das stumme Duell weiter, lauerten, registrierten jede Bewegung des anderen, ja jeden Impuls zu einer Bewegung. Gowers stellte sicherheitshalber einen Fuß auf das am Boden liegende Schwert.
    Zinat Mahal Begum hatte nicht einen Augenblick aufgehört, ihren Schaukelstuhl in die sanfte Bewegung zu versetzen, die ihrem Rücken so guttat, und lenkte nun ein: »Nehmen wir also an, Sie sind kein Mörder, Mr. Gowers«, sagte sie. »Aber ein Jäger sind Sie! Das Töten …«, sie nickte ihrer Wächterin zu, »… wird Ishrat besorgen.«
    »Soll sie mich begleiten?«, fragte Gowers zögernd. Die Königin nickte wieder, und der Investigator erkannte, dass er dieser Falle nur noch durch irrsinnige Forderungen entgehen könnte.
    »Mr. Mukhopadhyaya und seine Familie bleiben unangetastet.«
    »Selbstverständlich, Mr. Gowers.«
    »Ich verlange völlig freie Hand bei meinen Ermittlungen. Zugang zu allen Räumen und allen Personen …«
    »Wie Sie wollen, Mr. Gowers.«
    »Ich verlange sehr viel Geld.«
    Eine beiläufig wegwerfende Handbewegung blieb die einzige Antwort.
    »Und eine Frau!«
    Das Schweigen dauerte diesmal ein wenig länger, und erst als die Wände des englischen Zimmers sich damit vollgesogen hatten, sagte Zinat Mahal Begum langsam: »Wählen Sie, Mr. Gowers.«
    Ohne eine Miene zu verziehen, zeigte Gowers auf die Wächterin und erkannte an einem leichten, hasserfüllten Beben ihres Körpers, dass sie jedes Wort verstanden hatte.
    »Ishrat!«, sagte die Königin gleichmütig.
     

29.
     
    Sie ging stets zwei Schritte hinter ihm, auf der Mauer des Roten Forts, und anfangs hatte er befürchtet, jeden Moment seinen Kopf zu verlieren, denn Ishrat hatte nicht nur ihren Schleier, sondern auch ihr Schwert wieder angelegt. Seine Fragen beantwortete sie knapp, aber mit einem Gleichmut, der ihn wunderte und warnte. Eine europäische oder amerikanische Frau hätte, auf diese üble Weise verschachert, sicherlich anders reagiert, und er schrieb ihre Ergebenheit in ihr Schicksal dem merkwürdigen asiatischen Verständnis von Macht und Gehorsam zu, von dem er gelesen hatte.
    Tatsächlich war Ishrat in der festen Überzeugung erzogen worden, dass sie Eigentum der Königin von Delhi sei; ihr Leib, ihr Leben gehörten Zinat Mahal Begum, und so, wie sie auf einen Befehl hin ihr Leben geopfert hätte, würde sie nun ihre Unversehrtheit hingeben. Natürlich verstieß das gegen die Regeln des Islam, aber wenn die Königin es befahl, galten diese Regeln eben nicht mehr. So war es immer gewesen, und anders hätte man die religiös so gespaltene Bevölkerung Nordindiens auch überhaupt nicht regieren können.
    In den Tempeln der Hindus hatten sich seit Jahrtausenden Mädchen und junge Frauen auf die gleiche Weise geopfert. Genau genommen entehrte der Befehl, dem Nasrany zu Willen zu sein, Ishrat nicht einmal, denn sie war nur ein Werkzeug; und es war unmöglich, dass die Königin von Delhi mit ihren Werkzeugen etwas Entehrendes tat. Außerdem hatte sie ganz zuletzt noch einen zweiten Befehl erhalten, den er nicht kannte.
    »Der Amerikaner hat nicht sein eigenes Leben verlangt!«, hatte Zinat Mahal Begum gesagt.
    »Ich verstehe, Erhabene«, hatte Ishrat geantwortet.
     
    Ihr Weg auf der Mauer war fast drei Meilen lang, und Gowers nahm sich viel Zeit. Er untersuchte die Blutflecken an der Nordwestecke über dem Marktplatz und dem Kalkutta-Tor; die Stelle, wo der Mörder von der Mauer gesprungen war. Er sah lange in die Gasse hinab, die zwischen dem Königspalast und Fort Sedinghur – der britischen Bastion, die den Fluss bewachte – zur Jumna führte; suchte das Flussufer sogar mit seinem kleinen Fernrohr ab, entdeckte dort aber neben den Abzugsgräben des Roten Forts nur einige Bettler, die im Schatten der Mauer zu schlafen versuchten – oder gestorben waren.
    Erst im Süden, in der Nähe des Rajgaht -Tores, wo die Stadt sich vor dem Palast zu einem Gewimmel aus Krämerbuden, Baracken und einigen Ruinen aus dem Sepoy-Aufstand öffnete und die breite Treppe der Fürsten hinunter zum Fluss führte, fand er, was er suchte. Die Spuren, die die eisernen Haken überall an den Mauervorsprüngen hinterlassen hatten,

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