Das blaue Siegel
das Aussetzen jener starken Grundströmung anzeigte und eine leichte, nach den kalten Nordwestwinden der Beringstraße fast warme Brise von Steuerbord her dem Seemann verriet, dass dort eine landgeschützte Bucht oder ein Sund liegen musste, schluckte Haswell unwillkürlich vor Bewunderung.
Nach einer Fahrt von zweitausend Meilen durch unbekannte Gewässer und riesige Nebelbänke hatte die Investigator ins Schwarze getroffen. Sie waren im Kotzebue-Sund, gerade drei Wochen, nachdem sie auf den Sandwich-Inseln die Anker gelichtet hatten. Zu allem Überfluss also auch noch ein Geschwindigkeitsrekord.
»Gratuliere, Sir!« Haswell hätte seinem Kommandanten gerne die Hand geschüttelt, aber das ging natürlich nicht an, denn es hätte ja die Selbstverständlichkeit dieses Ergebnisses infrage gestellt. Der Erste Offizier biss sich ohnehin bereits auf die Zunge, weil er seiner Verwunderung überhaupt Ausdruck gegeben hatte.
McClure war lange genug als nachgeordneter Offizier gefahren, um die heiklen Probleme von Loyalitätsbekundungen gegenüber Vorgesetzten zu kennen. »Das möchte ich nicht noch mal machen, Will«, murmelte er deshalb möglichst verdrossen, und ehe männliche Rührung die beiden kühlen Briten vollständig überwältigen konnte, klopfte der Kommandant dröhnend seine Pfeife aus. »Und jetzt werde ich schlafen! Mindestens sechs Stunden werde ich schlafen. Seien Sie so liebenswürdig, und feuern Sie dann die Kanone ab, damit ich wach werde und Collinson weiß, dass wir hier sind.«
Aber es war Collinson, der nicht da war. Im Laufe der nächsten drei Tage trafen sie mehrere Schiffe: verschiedene Walfänger, unvermeidlich die Plover , Kapitän Moore, das unglückliche Depotschiff. Aber auch die Fregatte Herald , Kapitän Kellett, ein Schulschiff der königlichen Marine, das aus der Südsee heraufgekreuzt war, um die Plover zu besuchen und die jungen Kadetten auch mit diesem unwirtlichen Teil der Welt bekannt zu machen. Nur von der Enterprise fehlte weiterhin jede Spur.
Natürlich konnte es sein, dass sie unbemerkt durchgekommen und bereits weiter ins Eis gesegelt war. Aber das entsprach weder Collinsons Art noch seinen Befehlen. In einem nur ihm bekannten Winkel seines Herzens wusste McClure, dass er jetzt vorn lag, und schloss sich für zwei Stunden in seiner Kajüte ein. Nicht, um seine Entscheidung zu treffen, sondern um seine Entscheidung in einem wohlformulierten Brief an die britische Admiralität zu begründen. Von der Wahrscheinlichkeit, dass Collinson ihm voraus sei, schrieb er wider besseres Wissen, und bei Kap Lisburne schon auf ihn warten würde. Von der Notwendigkeit, jetzt und hier, auf der Höhe des Sommers, bei offenem Wasser, keinen einzigen Tag mehr mit Warten zu vergeuden, da man sonst ein ganzes Jahr verlieren könnte. Von der Verzweiflung Franklins und seiner Männer, die irgendwo zwischen Icy Cap und dem Peel Sound auf die Rettung in letzter Minute hofften.
Er schrieb nicht, dass er dreiundvierzig Jahre alt war und dass nach so vielen Reisen auf See und im Eis zum ersten und vielleicht letzten Mal niemand mehr zwischen ihm und dem Schicksal stand. Das wussten die Herren Admirale auch so, denn sie alle hatten zu ihrer Zeit, von ihrem Glück, ihrem Mut und ihren Fähigkeiten getragen, vor ähnlich einsamen Entscheidungen gestanden – und ebenso wenig gezögert. Insofern tat Robert John Le Mesurier McClure nichts, was man nicht von jedem britischen Seeoffizier erwartet hätte.
Dieser und andere letzte Briefe wurden Kapitän Kellett übergeben, und danach stiegen an Bord der Herald alle zweihundertdreißig Mann in die Wanten und gaben der kleinen Investigator drei donnernde Hurras mit auf ihren einsamen Weg. Kellett ließ wenig später durch Flaggensignale noch einmal anfragen, ob McClure nicht noch wenigstens einen Tag auf die Enterprise warten wolle, aber die Sonne ging hier oben nicht mehr unter, und ein Tag würde Wochen dauern.
»Can’t wait!«, gab der Signalgast der Investigator auf McClures Befehl zurück.
Am 2. August 1850 meldete der Ausguck Eishimmel im Norden, und wenige Stunden später sahen sie es. Sie sollten vier Jahre lang nichts anderes mehr sehen.
31.
Je nach Salzgehalt hört Meerwasser erst bei minus zwei Grad Celsius auf, flüssig zu sein. Wo die kalte Luft auf seine Oberfläche trifft, verschieben sich dann die Moleküle des Wassers nicht länger gegeneinander, sondern erstarren, verketten sich zu kristallinen, hexagonalen Strukturen, die zuerst
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