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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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Eile sei. Aber der Bursche zuckte mit den Schultern, ohne ihn auch nur anzusehen. Das weckte das Gewissen und den christlichen Kampfgeist des Missionars und lenkte ihn von den Anfechtungen des Zorns und der Enttäuschung ab. In seinem schönsten Englisch sagte er: »Wollen Sie nicht zu uns treten, Matrose Gowers? Wir haben uns gerade zur Andacht versammelt, und es sind Männer da, deren Worte Sie hören sollen! Reverend Clarke, Reverend Damon, Reverend Rice …«
    »Nicht mal als Toter, Sir!« Ein Haus voller Prediger hätte John Gowers eher angezündet als betreten. »Ich werde unten am Tor auf Sie warten.« Er drehte dem Mann und seiner Mission beinahe gelangweilt den Rücken zu.
    »Matrose Gowers, Sie sind sehr …« Miertsching fehlte das Wörterbuch, um seinen Unmut auszudrücken. »Sie sind ganz und gar …«
    »Unhöflich?«, schlug John vor, knurrte die Worte leise vor sich hin, während er den Weg zum Tor hinunterging. »Frech, dumm, aufsässig, bösartig, respektlos …« Er fügte noch einige derbe Flüche hinzu und merkte, wie gut ihm das Fluchen tat.
    »Anmaßend!«, sagte der Missionar auf Deutsch. Überheblich, eingebildet, dachte er weiter. Ganz der selbstgefällige Mensch, der glaubt, ohne einen Gott auszukommen. Kopfschüttelnd ging Miertsching wieder hinein, um seinen Brüdern die traurige Nachricht zu überbringen. Kurz darauf stimmte man im Missionshaus ein geistliches Lied an:
     
    Give me thy strength, o God of power;
then let the wind blow, or thunders roar,
I need not fear by sea or land,
for thou, my Lord, wilt by me stand! 3
     
    Die Verse hingen in der lauen, tropischen Luft wie ein schlechter Geruch, und unten am Tor vertrieb John Gowers sie, so gut es ging, durch die Erinnerung an die braunhäutige Hure, die er am Nachmittag genossen hatte.
     

28.
     
    »Was genau kann ich für Sie tun, Mahal Begum?« Die Wasserpfeife war schließlich erloschen, die wesentlichsten Informationen hatten ihn erreicht. Aber war er auch engagiert?
    »Klären Sie den Mord auf, Mr. Gowers. Finden Sie den Mörder und seine Hintermänner.«
    »Und wenn ich sie gefunden habe?«, fragte der Investigator, der sich in diesem Fall die Übergabe der Sache an Polizei und Justiz kaum vorstellen konnte.
    »Töten Sie sie, Mr. Gowers.«
    »Ich bin kein Mörder, Mahal Begum«, sagte Gowers ruhiger, als er war, und dachte an die Menschen, die er getötet hatte. Es war fast immer im Kampf geschehen, redete er sich ein.
    »Ich bezahle jeden Preis, den Sie verlangen, Mr. Gowers.«
    »So reich ist ganz Indien nicht, Mahal Begum.«
    »Ihr Anwalt Mr. Mukhopadhyaya«, erwiderte Zinat Mahal Begum, ohne zu zögern und ohne die geringste Erregung in ihrer Stimme, »hat doch eine junge Frau, nicht wahr? Auch Kinder?«
    Obwohl er schon vieles erlebt hatte, dauerte es einige Sekunden, bis die Ungeheuerlichkeit dieser Worte vollständig in Gowers’ Bewusstsein drang. Dann geschahen viele Dinge – und als er später darüber nachdachte, was ihn so aufgebracht hatte, gelangte er immer wieder zu demselben Schluss: Es war die ewige, gleichgültige Selbstverständlichkeit, mit der Könige sich ein Recht auf das Leben und Sterben anderer Menschen anmaßen.
    Gowers sprang auf und riss den seidenen Vorhang herunter, um das Stück Mist zu sehen, das sich dahinter verbarg, musste sich aber im gleichen Moment seiner eigenen Haut wehren. Die Wächterin hatte schon bei seiner ersten Bewegung ihr Schwert gezogen, und Gowers entging dem tödlichen Hieb nur, indem er ihr entgegen- und praktisch in ihre Arme sprang. Auf diese Weise traf sie ihn nicht mit der Klinge, sondern nur mit dem Knauf, und auch nicht seinen Nacken, sondern die Schulter, die er hochgezogen hatte.
    Im nächsten Moment fasste er nach ihrer Kehle, erwischte aber nur den Schleier und einen Teil ihrer langen schwarzen Haare und sah in ein schönes, aber von jäh aufflackernder Wut verzerrtes Gesicht. Sie ließ das Schwert fallen und tastete nach dem Dolch an ihrer rechten Seite. Gowers, der ihre Absicht erkannte, entging dieser neuen Gefahr nur, weil er ihren Arm in Höhe der Ellenbeuge eisern umklammert hielt. Daraufhin entblößte sie ihre tatsächlich angeschliffenen Zähne, um ihm die Kehle durchzubeißen. Er zog ihren Kopf an den Haaren nach hinten, aber die kräftigen Muskeln in ihrem Nacken hielten dem Zug stand, glichen ihn aus und brachten ihren Mund nun wieder gefährlich nahe an seinen Hals. Er wollte ihr deshalb gerade sein Knie in den Unterleib rammen, als der

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