Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
Vom Netzwerk:
waren alt; vielleicht noch von der britischen Belagerung der Stadt verursacht. An einer Stelle aber waren die Narben im Stein frisch. Dieser Teil der Palastanlage war wüst und verfallen, nur noch ein von der Sonne gebleichtes Skelett lange vergangener Pracht.
    Gowers suchte mit seinem Fernrohr nach Anzeichen von Leben, fand aber nur einen großen leeren Hof. Dahinter Ruinen, eingefallene Dächer, bröckelnde Wände, einen neben-und übereinander verschachtelten Komplex zusammengewürfelter Bauten, die ihn aus leeren Fensterhöhlen anstarrten. Es erinnerte ihn an die Abbildungen des antiken Kaiserpalastes in Rom, die er gesehen hatte; mit dem Unterschied, dass hier der üppige Pflanzen- und Moosbewuchs fehlte, den das Klima ganz einfach nicht zuließ. Im tiefen Schatten eines zerbrochenen Brunnens nahm er endlich eine träge Bewegung wahr und stellte unwillkürlich die Frage: »Was ist das?«
    »Ein Hund«, sagte Ishrat, ohne lange hinzusehen. »Dieser Teil des Forts gehört den Hunden der Erhabenen. Sie bewachen ihn.«
    »Wovon leben sie?«, fragte Gowers, der in der Bewegung vor seinem Glas nun wirklich die Formen eines mindestens hüfthohen Hundes erkannte, der den fortgeschrittenen Nachmittag im Schatten verdöste.
    »Die Leute werfen Fleisch über die Mauer«, antwortete Ishrat und sagte nicht, dass die Hunde im letzten Winter, allmählich verwildert in ihrem verfallenden Gefängnis, sogar einmal den bewohnten Teil des Palastes angegriffen hatten und erst vor dem Gewehrfeuer mehrerer herbeigerufener Wachen zurückgewichen waren. Bisweilen hatte man auch die zerfetzten Reste vorwitziger Diebe gefunden, die an dieser ansonsten unbewachten Stelle in den Palast eingedrungen waren.
     
    Ishrat musterte, wie schon so oft auf ihrem Weg auf der Mauer, den schlanken, aber kräftigen Mann, der vor ihr ging, und fühlte wieder seine Hand in ihren Haaren. In der Zenana wurde fast ungehörig oft von europäischen Männern gesprochen: dass sie viel stärker gebaut seien als Inder, größer in Umfang und Länge, und dass ihre Hoden fast so groß wie die von Pferden wären. Ishrat bebte vor Hass und Erwartung, die feinen Härchen in ihrem Nacken richteten sich auf, und sie fühlte sich wie eines der Tiere dort unten, Kreuzungen aus Afghanischem Windhund und Deutscher Dogge, die der Amerikaner durch sein Fernrohr studierte. Heute Abend würde er sie streicheln, sagte sie sich. Und sie würde ihn dafür töten, eines Tages.
     

30.
     
    Der Nebel war so dicht, dass die Seevögel, in der irrigen Annahme, bis zu den schwarzen Klippen von St. Lawrence läge kein Hindernis vor ihnen, gegen das Takelwerk flogen und mit gebrochenen Flügeln auf Deck und im Kochtopf landeten.
    »Aethia cristatella«, sagte Haswell, der Erste Offizier der Investigator . »Ein Alk.«
    »Immerhin ein Beweis dafür, dass die grobe Richtung stimmt«, knurrte McClure, der diesen Polarvogel kannte. »Aber auch dafür, dass Land in der Nähe ist«, fügte er leise hinzu. Er fröstelte. Seit einer Woche hatten sie keinen Stern mehr gesehen, das Schiff lief mit einer starken, aber leider völlig unbekannten Strömung, und die Seekarten für dieses Gebiet hatten sich als höchst unzuverlässig erwiesen. Erst am Tag zuvor hatte man zwei Inseln gesichtet, die es laut Karte nicht gab. Jedenfalls nicht da, wo er zu sein glaubte. Trotzdem Zuversicht und Sicherheit ausstrahlen zu müssen hatte den Kapitän über den Rand seines Selbstvertrauens in Bereiche des Glaubens, Hoffens und Hinnehmens geführt. Er rauchte eine Pfeife nach der anderen und spürte schon seit drei Tagen seine Zunge nicht mehr.
    Das Lot wurde ununterbrochen ausgeworfen und zeigte immerhin gleichmäßig tiefes Fahrwasser bei dieser höllischen Nebelregatta. Eben deshalb blieb McClure beinahe das Herz stehen, als der Toppsgast meldete: »Brecher voraus!« Wahrscheinlich würden sie mit Vollzeug gegen die Südwestküste Alaskas knallen, wie die dämlichen Vögel gegen den Fockmast!
    »Zwei Strich backbord, Mr. Haswell«, sagte McClure und ballte die Hände in den Taschen seines schweren Mantels zu Fäusten, weil er jetzt selbst hören konnte, wie große Wellen gegen unsichtbare Felsen schlugen. »Wir nähern uns Kap Prince of Wales.«
    »Ay, Sir!«, sagte Haswell und gab den Befehl an den Rudergänger weiter, aber es klang eher wie: Woher willst du das denn wissen?!
    Als jedoch die geheimnisvolle Brandung im Verlauf der nächsten Stunden achteraus zurückblieb, eine merkliche Verringerung der Fahrt

Weitere Kostenlose Bücher