Das blaue Siegel
wie ein hauchdünner Ölfilm auf der Dünung treiben. Hält die Kälte an, wird aus dieser immer wieder von Strömung und Wind zerrissenen feinen Haut eine Art Brei, und »das Meer gerinnt«, wie Pytheas von Massilia schrieb, der Grieche, das Sonnenkind, Südländer, der 241 vor Christus als erster Mensch nördlich der Orkney-Inseln segelte und dabei Thule entdeckte; ein Land, das danach von vielen gesucht, aber nie wieder gefunden wurde.
Wenn der kalte Brei schließlich stockt, beginnt er senkrecht zu wachsen, bis er eine zwei bis drei Zentimeter dicke Schicht bildet, die sich noch jeder Regung des darunter liegenden Wassers anpasst und fast durchsichtig ist. Erst ab einer Dicke von etwa zehn Zentimetern wird diese Schicht allmählich grau und Jungeis oder Graueis genannt. Anders als Süßwassereis dieser Stärke ist es nicht fest. Es bricht aber auch nicht, sondern es biegt sich , wobei seine Elastizität und Plastizität vom jeweiligen Salzgehalt des Wassers, der Gefriergeschwindigkeit, der Landnähe und tausend anderen Faktoren abhängen – also unberechenbar sind. Die tückischste Substanz der Erde nannten die Briten das Meereis.
Es kann sich innerhalb weniger Stunden vollständig auflösen – oder jahrzehntelang weiterwachsen; es kann sich so schnell und auf so großen Flächen bilden, dass Wale und andere Lungentiere irgendwann keine Atemlöcher mehr finden und unter dem Eis verenden. Bisweilen scheint es ein grausames Spiel mit den Tieren zu treiben: bildet Savssats , kleine Streifen offenen Wassers innerhalb der endlosen Eisdecke, Öffnungen von manchmal weniger als dreißig Quadratmetern, um die sich Hunderte von Narwalen, Weißwalen drängen, um Atem zu holen. Dabei gefriert das Wasser, das die Tiere in ihrer Panik aufwühlen, an den Rändern umso schneller und schließt auf diese Weise mit grausamer Allmählichkeit die Eisdecke.
Das Meereis spielte auch gern mit den hölzernen Schiffen der Wal- oder Robbenfänger, schloss sie ein, hob sie hoch, legte sie auf die Seite. Es konnte sie innerhalb einer Minute völlig aufreißen, versenken, oder aber sie langsam zermalmen und wochenlang an den Planken nagen. Eine einzige Nacht in arbeitendem Eis konnte das Haar eines zwanzigjährigen Seemanns grau machen. Manchmal war ein Schiff schon in der Baffin Bay rettungslos verloren, der Rumpf durchbohrt, die Lecks nicht mehr abzudichten – und sank doch erst zweitausend Meilen weiter südlich, vom Eis dahingetragen, mitsamt einer Besatzung, die sich dann wochenlang auf das Ertrinken vorbereiten konnte.
Selbst an Land war man nicht vor dem Meereis sicher. Seebeben, plötzlich wechselnde Strömungen konnten eine steile Eiswand binnen weniger Minuten Hunderte von Metern weit die flachen Strände hinaufschieben. Ganze Eskimodörfer waren angeblich auf diese Weise verschlungen worden. Und nur wenige Menschen, Europäer wie Eingeborene, konnten sich je ganz dem Eindruck entziehen, dass dieses Eis lebt ; ein blindes, bösartiges Wesen, alt wie die Nacht und ewig wie der Tod.
Wenn das Meereis nach einem halben oder Dreivierteljahr etwa zwei Meter dick ist und auch im polaren Sommer nicht mehr vollständig wegschmilzt, nennt man es Alteis oder einfach nur Pack. Es ist dann sehr hart und zeigt einen bläulichen Schimmer, denn sein Salz ist ausgefroren und nach unten gesunken – als schwere Salzlake bis auf den Grund dieses dunkelsten aller Ozeane.
Hier folgt das Salz den finsteren Tälern der unterseeischen Landschaft, rinnt irgendwann von der Grönlandplatte hinunter in den Atlantik, ein zäher Fluss unter dem Meer. Mehrere Kilometer breit, wälzt sich der Salzfluss südwärts zur anderen Seite der Erde, vereinigt sich dort mit dem antarktischen Strom, wird von ihm den Pazifik hinauf wieder höher gewirbelt, löst sich auf in verschiedenen Strömungen und steigt so – alle tausend Jahre – wieder an die Oberfläche der Beringsee.
Alteis bricht leichter als das elastische Graueis. Stürme zerreißen es, türmen die Schollen zwölf Meter hoch übereinander, die in den bizarrsten Formen aufs Neue gefrieren. Auf diese Weise bildet das nördliche Packeis eine einzige schwimmende Wüste von Pressrücken, Frostschutt, Eisgeröll, weißen Trümmerbergen und jähen Spalten – zweieinhalb Millionen Quadratkilometer Eis, das, wenn es Europa bedeckte, von den Pyrenäen bis zum Ural, von Sizilien bis zu den Fjorden Norwegens reichen würde.
Am gezackten, ausgefransten Rand dieses riesigen Untiers tastete sich die kaum
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