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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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dabei musste Gowers sich zeitweise sehr zusammenreißen, um dem Gefühl zu entgehen, in ein Shakespeare-Drama geraten zu sein.
    Die Söhne des alten Moguls, Mirza Jahwan Baht und Mirza Sha Abbas, waren mit zwei Schwestern verheiratet worden: Zamani und Ruqaia, Prinzessinnen von Oudh. Das war vor mehr als zwanzig Jahren geschehen, aber da keines der vier Kinder zu diesem Zeitpunkt älter als zehn gewesen war, dauerte es eine Weile, ehe sie ins geschlechtsreife Alter kamen. Dann brachte Zamani in rascher Folge zwei Mädchen und schließlich 1858 den ersehnten Prinzen zur Welt, während Ruqaia, die jüngere Schwester, mit Abbas, dem jüngeren Bruder, zwar die leidenschaftlichere, aber auch unglücklichere Ehe führte; vier ihrer fünf Kinder wurden tot geboren. Zwischen 1859 und 1862 starben außerdem: die beiden Thronfolger Jahwan und Abbas, Ruqaia von Oudh, Zamanis Töchter und deren Cousine, Ruqaias einziges lebend geborenes Kind.
    Wahrhaftig ein Viehsterben, das auf natürliche Weise kaum zu erklären war. Anstelle eines derart blinden Schicksals nahm Gowers also lieber etwas an, das er »die böse Absicht« nannte, und versuchte, diese böse Absicht einzukreisen, indem er sich möglichst genau Todeszeitpunkt, -ort, -art und -umstände schildern ließ. Natürlich hätte er gern die einzige Überlebende, Zamani von Oudh, darüber befragt, aber sie lebte nicht in Delhi, sondern in offenbar partieller geistiger Umnachtung in der Residenz ihres Vaters, des vor nunmehr zehn Jahren entmachteten letzten Nawab der Oudh.
    Seine einzige etwas heißere Spur war jedoch ein ganz anderer Tod: Schon 1861 war in Rangoon der kleine Junge gestorben, den man einst gegen Mirza Innuzzar Baht ausgetauscht und der in der Verbannung die Rolle des Prinzen gespielt hatte. Eine vierjährige Lücke im Aussterben des Mogulhauses – zwischen dem Tod von Zamanis Töchtern und dem erfolgreichen Mordanschlag auf ihren Sohn – war zweifellos entstanden, weil die böse Absicht den Prinzen bereits für erledigt hielt. Wie hatte sie erfahren, dass der Junge noch lebte? Wer hatte davon gewusst? Und wessen Kind war der unglückliche kleine Schauspielerprinz?
     

51.
     
    Die Mittagssonne verwandelte das Eis an Masten, Stengen und Tauen allmählich in schwere, funkelnde Wassertropfen, und es sah aus, als sei das ganze Schiff mit kleinen, exotischen Trauben bewachsen. John zog die Handschuhe an, begann nach wenigen Minuten vor Kälte auf und ab zu tänzeln und schlug hin und wieder dumpf klappend die Hände zusammen.
    Nach weniger als einer Stunde sah er es zum ersten Mal: weit im Norden.
    Ein kleiner dunkler Punkt über dem Nebelmeer.
    John kniff die Augen zusammen, um ihn zu fixieren, und langte mechanisch nach dem Fernrohr, das mit einem Nagel am Großmast befestigt war. Obwohl die Berührung mit dem kalten Metall beinahe schmerzhaft war, balancierte er das Rohr auf den Fingern, die Knie weich und elastisch, um die stetigen Bewegungen des Schiffes auszugleichen. Er schaute durch das Okular und fand den Punkt auf Anhieb, so genau hatte er seinen Blick ausgerichtet. Mit einer feinen Drehung stellte er die Optik scharf und identifizierte den Punkt jetzt eindeutig als schwarzen Fels, einen Berg, festes Land im Norden!
    Er öffnete schon den Mund, um es auszusingen, den fünfundsechzig Männern an Bord ein Ziel, ihrer Fahrt von fünfzehntausend Meilen einen Sinn zu geben, aber dann wartete er. Schloss die Augen und lauschte, ob eine ferne Brandung zu hören war; nichts. Versuchte, eine Dünung unter seinen Füßen zu spüren; nichts. Sah nach unten, wo der Mast im Nebel verschwand; niemand.
    John beschloss, noch einige Minuten zu warten, allein mit seiner Entdeckung, die er jetzt wieder mit den Augen verschlang. Keine Dünung, keine Brandung, das hieß: Dieser Berg war ein Vorgebirge, stieg direkt aus dem Meer hoch, sodass auf Stunden hin nicht die Gefahr bestand, auf irgendeinen Grund zu laufen.
    Die Sonne stieg höher, der Himmel wurde klarer, und durchs Fernrohr konnte er nun schon den gleißenden Schnee auf dem Gipfel des fernen Berges vom weißen Nebel, in dem er auf ihn zuschwamm, unterscheiden. John fühlte die Kälte nicht mehr und grinste hinter dem Fernrohr so breit wie der Totenschädel auf der Flagge eines Piratenschiffs. Sein Berg, sein Land, in diesen Minuten! Es musste mindestens zweitausend Fuß hoch sein; was für ein Unterschied zur schlammigen, hässlichen Küste Amerikas, die sie einen Monat lang vergeblich nach irgendwelchen

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