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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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Stunde fühlte sie, wie ihre Beine taub wurden und trotzdem juckten; eine Art Hunger nach Bewegung, der ihre Waden, Schenkel, sogar ihre Hinterbacken befiel. Aber als sie ihm vorsichtig nachgab, begannen ihre Füße zu schmerzen. Sie verlagerte ihr Gewicht von den Fersen auf die Zehen und umgekehrt, versuchte, jeden Quadratzentimeter der Fußsohlen gleichmäßig zu belasten.
    Der Amerikaner hatte sich nur einmal wirklich bewegt; als seine Pfeife erloschen war, beugte er sich neben das Bett, klopfte sie in dem Messingspucknapf aus, der dort unbenutzt stand, und stopfte sie dann aufs Neue. Während sie anfangs seine Blicke auf ihrem Körper nahezu fühlen konnte und sah, dass er erregt war, merkte sie doch bald, dass sein Geist das Zimmer verlassen hatte und seine Augen durch sie hindurch etwas anderes sahen.
    Gowers hatte zuerst eine gute Viertelstunde mit Petrus von Ravenna gehadert, der ein steinalter Mann gewesen sein musste, als er die Anwendung libidinöser Bilder in der Gedächtniskunst empfahl. Er sah jedenfalls nur Haut, Fleisch, Brüste, Schoß, mit einem Wort: Frau!, und spürte eine Erektion, um die ihn so mancher alte Gedächtniskünstler heiß beneidet hätte. Dann kam sein nervös flackernder Blick auf Ishrats Bauch allmählich zur Ruhe.
    Er sah sich ihren Bauch genau an: die leichte Bewegung beim Atmen, die etwas vorstehenden Rippenbögen, die sanfte Rundung zwischen den Hüftknochen und die langgestreckte Wölbung hinunter in den Schatten ihres Geschlechts. Ishrat epilierte ihre Scham, aber nicht ihren Bauch, und ein kaum merklicher dunkler Flaum zog sich wie ein spitzwinkliges Dreieck bis in die Herzgrube, zum Solarplexus und wurde nur rund um die Vertiefung des Nabels zu weichen, schwarzen Härchen.
    Gowers wanderte mit den Augen durch diese Landschaft, und die Kinder fielen ihm ein, die vier tot geborenen Kinder Ruqaias von Oudh. Sie war erst fünfzehn gewesen, als sie zum ersten Mal schwanger wurde, etwas heranwachsen fühlte in ihrem Bauch, das dann doch nur tot zur Welt kam. War eine so kleine Leiche eigentlich kalt? Mit sechzehn und achtzehn die gleiche Erfahrung – in mir wächst der Tod! Wie wurde ein so junger Mensch mit so etwas fertig? Wie fühlte sich das an? Und woran lag es? Starben die Kinder schon in ihrem Leib?
    Ruqaia und ihr zwei Jahre älterer Ehemann, Mirza Sha Abbas, lebten damals nicht in Delhi, sondern in Lakhnau, der Hauptstadt des Oudh. In Delhi brachte die Prinzessin 1858 ein lebendes Mädchen zur Welt. In Lakhnau, drei Jahre später, wiederum einen toten Knaben, den sie selbst nur um wenige Stunden überlebte. In Lakhnau starben 1862 auch ihre beiden Nichten, Töchter ihrer Schwester Zamani und ihres Schwagers Mirza Jahwan Baht, des ältesten Mogulprinzen. Sie waren in Delhi geboren und starben in Lakhnau, wo sie nach der Verbannung der Königsfamilie lebten. Starben an einer unbekannten Krankheit, neun und sieben Jahre alt. Und mit ihnen starb, noch ein Jahr jünger, auch ihre Cousine, Ruqaias einziges lebend geborenes Kind. Lebend geboren. In Delhi wurden die Kinder lebend geboren, in Lakhnau starben sie vor, während oder nach der Geburt.
    Gowers verlagerte Lakhnau und die Kinder, schob sie auf Ishrats linken Brustkorb, auf ihre Rippen, eins über dem anderen. Rechts ordnete er die übrigen Toten, allesamt in Rangoon und in der Verbannung gestorben: den alten Bahadur Sha, Jahwan den Erstgeborenen, vermutlich vergiftet, und seinen Bruder Abbas, gestorben bei einem Reitunfall, auf der Jagd. Niemand wusste es oder war dabei gewesen. Seltsam verrenkt hatte er neben seinem Pferd gelegen und schon rote Ameisen in Ohren, Nase und Mund gehabt, als man ihn fand.
    Dann der unglückliche Junge, der Dreijährige, Sohn einer Dienerin – Sohn welcher Dienerin? –, der in Rangoon die Rolle des Prinzen spielte, während der wirkliche Erbe heimlich in Delhi aufwuchs. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, auch nur festzustellen, wie dieser Junge gestorben war; hier hatten auf Gowers’ Fragen nur alle mit den Schultern gezuckt. Eines Morgens hatte er tot in seinem viel zu großen Bett gelegen, in seinen geliehenen seidenen Gewändern, neben geliehenem Silberspielzeug sein geliehenes, kurzes Leben beendet. Ohne Mutter, Freunde, Spielkameraden – der einsamste Tod von allen.
    Das war in Rangoon geschehen, zwischen 1859 und 1861, unter Ishrats rechter Brust. In die Mitte, die Herzgrube, setzte Gowers den toten Erben, den erstochenen kleinen Jungen, in Delhi erstochen. Erstochen!

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