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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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kletterte, und stand zitternd vor Kälte auf dem Verdeck. Der Segelmacher Joe Facey kam auf die glorreiche Idee, ihr trockene Wäsche anzubieten, die sie auch ungeniert und vor aller Augen anlegte. Daraufhin begannen noch etliche andere Frauen zu zittern und zu frieren und erhielten von den mitleidigen Seeleuten wollenes Unterzeug. Obwohl es nicht gerade dem letzten Schrei der europäischen Mode entsprach, freuten sie sich so sehr darüber, dass sie es mehrfach unten in den Kajaks wieder auszogen und völlig nackt zurück an Bord kletterten, um aufs Neue vielsagend mit den Zähnen zu klappern. Die Männer der Investigator stellten dabei übereinstimmend fest und erzählten sich untereinander noch lange und detailliert, dass die Damen so schwach behaart waren, dass man alles sehen konnte, was man sehen wollte. Und wer weiß, wie lange der Vorrat an Unterwäsche gereicht hätte, wenn der Kapitän nicht auf Deck erschienen wäre, um dieser durchsichtigen Betrügerei Einhalt zu gebieten.
    Wann in all diesem Gewimmel John Gowers wieder an Bord kam, konnte nicht festgestellt werden. Er behauptete steif und fest, am Abend in einem der Frachträume des Schiffes eingeschlafen zu sein und am Morgen den Eskimos beim Verstauen der Geschenke in ihre Kajaks geholfen zu haben. Das Gegenteil war nicht zu beweisen, obwohl sein nächtliches Abenteuer bald gerüchteweise auch die Offiziersmesse erreichte.
    McClure kommentierte beides, das pikante Gerücht und die eigenwillige Modenschau an Deck, später in seinem Journal so feinsinnig, dass seine Andeutungen selbst die bessere englische Gesellschaft nicht mehr erschrecken konnten. Kap Bathurst sei für die Männer der Investigator das gleiche Paradies gewesen wie Otaheite für diejenigen der Dolphin oder Endeavour . Man musste schon Bougainville gelesen haben, um das zu verstehen.
    Miertsching litt sehr unter den entsprechenden Anzüglichkeiten, die noch einige Tage selbst das gemeinsame Abendessen der Offiziere begleiteten, denn natürlich wurde er als Experte für Eingeborenenfragen bei Tisch eingehend auch zu ihren ehelichen Gepflogenheiten befragt. Als dieses Gerede ihm zu sauer aufstieß, als der junge Leutnant Robert Wynniat wieder einmal die geheimen Schönheiten der Eskimofrauen pries, als es selbst Doktor Armstrong einfiel, den Glanz ihrer langen schwarzen Haare mit dem einer Rabenfeder zu vergleichen, brachte der Missionar beide mit Worten zum Schweigen, die man weder ihm noch seinem Wörterbuch in dieser Deutlichkeit zugetraut hätte. Maliziös lächelnd sagte er, die Länge der Haare sei unter anderem deswegen zweckmäßig, weil es den Frauen dann leichter fiele, ihren Säuglingen damit den Hintern abzuwischen.
    McClure verschluckte sich an seinem Bordeaux, und sein Husten überdeckte das verblüffte Schweigen der Tischgesellschaft. Vereinzelt wurde ungläubig gelacht, dann wurden heftige Fragen nach dem Wahrheitsgehalt dieser Behauptung aufgeworfen, die Miertsching indes auf die Bibel zu beschwören bereit war. Er habe Derartiges mit eigenen Augen gesehen.
    »Nun, Gentlemen«, sagte der Kapitän schließlich, wobei er sein Glas aufs Neue erhob, »trinken wir darauf, dass diese Sitte niemals in England heimisch werden möge!«
     
    Im Norden blieb nur das wollene Unterzeug zurück, eiserne Nadeln und Fingerhüte, eine noch oft an den Feuern von Nuvasaat erzählte Geschichte – und ein Kind mit seltsamen Augen, das von seinem Vater nie mehr erfuhr, als dass er das Ende der Welt gesucht hatte und im Land der weißen Bären verschwunden war.
     

 
Teil zwei
     
     

49.
     
    Es war inzwischen auch tagsüber so kalt, dass die Männer im Großtopp sich Erfrierungen zuzogen, wenn sie nicht eifrig genug Nase und Ohren rieben oder mit den Füßen aufstampften. In stillen Momenten hörte man deshalb den plumpen Bärentanz des Ausgucks manchmal auf dem ganzen Schiff. Wie durch ein Wunder hatte Doktor Armstrong den Kommandanten sogar dazu gebracht, die entsprechenden Wachzeiten zu halbieren, sodass jeder Mann nurmehr drei statt sechs Stunden auf diesem einsamen Posten verbringen musste – mit einer Ausnahme.
    Man konnte John Gowers nicht für seine unerlaubte Abwesenheit vom Schiff bestrafen, weil diese Abwesenheit im Nachhinein nicht zu beweisen war. Allenfalls konnte man ihn ein bisschen schikanieren, und da bot sich der Ausguckposten nicht nur seiner Kälte, sondern auch seiner Langeweile wegen in besonderem Maße an. Seit einem Monat war dort oben außer Eis hier und

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