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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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schlammiger Einöde da nichts zu sehen gewesen, obwohl sie aufgrund der günstigen Eisverhältnisse jetzt mehr nord- als ostwärts steuerten und das Festland hinter sich gelassen hatten. Jedes Mal, wenn der Junge nach seinen sechs Stunden durchgefroren abenterte, fand sich ein schadenfroher Matrose, bisweilen auch ein feixender Offizier, der ihn mit vielsagendem Grinsen an die warmen Feuer von Kap Bathurst erinnerte. Er ertrug es mit stoischer Miene.
    Der Morgen des 6. September 1850 war überaus kalt. Der Nebel, der immer noch tief auf dem Meer lag, hatte im Takelwerk der Investigator kleine Eiszapfen gebildet, die sich auch jetzt, kurz vor Mittag, noch nicht auflösten. John zog deshalb beim Aufentern seine Wollhandschuhe aus, denn andernfalls wären sie nass geworden und hätten ihm oben, im Krähennest, nichts mehr gegen die Kälte und den schneidenden Wind genützt. Man sah die Mastspitze von Deck aus so wenig wie umgekehrt, und im Grunde war die Wache dort oben ziemlich sinnlos. Aber manchmal, wenn die Sonne die obersten Schichten des Nebels auflöste, auch wunderschön. Man schwebte dann gleichsam über Nebelwolken und hätte sich, wäre es nur weniger kalt gewesen, frei wie ein Vogel fühlen können.
    John löste James McDonald ab, einen achtundzwanzigjährigen rotbärtigen Schotten, der für derlei Gefühle ausgesprochen unempfänglich war. Sein Gesicht war nach dreistündiger Wache fast ebenso rot wie sein Bart, sei es vor Kälte, sei es, weil er es so heftig und ausdauernd warm gerieben hatte, um Erfrierungen vorzubeugen. Jetzt hatte er die Hände tief in seinen unergründlichen Hosentaschen vergraben und wippte auf tauben Fersen und Fußspitzen hin und her.
    »Spät!«, knurrte der Schotte, obwohl John, nach einem Marinebrauch, demzufolge man der alten Wache fünf Minuten schenkte, eigentlich zu früh war. Er erwiderte deshalb nicht mehr als die Formeln der Wachablösung, Position, Fahrt und Kurs des Schiffes betreffend.
    »Siebzig Grad dreißig Minuten Breite, hundertdreiundzwanzig Grad sieben Minuten Länge, acht Knoten, Nordnordost, elf Grad Kälte.« Die Worte bildeten einen feinen kalten Schleier vor seinem Gesicht.
    McDonald antwortete auf diese rituellen Informationen lediglich mit dem Fluch, der sich in den letzten drei Tagen an Bord der Investigator ausgebreitet hatte wie eine Infektionskrankheit: »Da friert dir der Furz in der Hose!«, und enterte ab. Schon an der Bramstenge war er nicht mehr zu sehen, und John stand allein über der kalten, schönen Nebelwelt.
     

50.
     
    Die Hitze fiel vom Himmel wie eine feste Substanz, durchdrang Dächer und Mauern, kroch durch die Straßen wie ein Tier und leckte in die offenen Fenster und Türen der Häuser hinein, in die Baracken der Sepoys, in die armseligen Hütten am Fluss ebenso wie in die Paläste, die Prunkgemächer des Roten Forts. Gowers schwitzte schon seit Stunden so sehr, dass er das Gefühl hatte, in einer Pfütze zu sitzen, und fragte sich, wie Abdur Ruhiman in seinem britischen Tweed-Anzug diese Tortur ertragen konnte. Aber der Beamte saß so steif und korrekt da, als hätte er so wenig Schweißdrüsen wie die Statue der Justitia vor Old Baileys. Die offene Architektur der Räume, die hohen Fenster mit den vielfach verschnörkelten Bogen nützten schon gegen neun Uhr morgens nichts mehr, denn wenn überhaupt Wind ging, dann kam er von Westen, aus der Wüste Tharr, und war so heiß, so wesenhaft, dass man sich wunderte, warum man ihn nicht sah.
    Vier Diener bewegten mit Pankas , großen, unter den Decken angebrachten Fächern, die heiße Luft. Andere liefen mit Tabletts herum, auf denen sie kalten, sehr süßen Tee reichten. Ein Mann mit einer Kiste feinster Zigarren stand zu Gowers’ persönlicher Verfügung im Hintergrund, Ishrath war da, Abdur Ruhiman als offizieller, Mukhopadhyaya als inoffizieller Übersetzer, und dass auch die Wände Ohren hatten, hörte man gelegentlich am Rascheln von Kleidern und Gaddis , das zu verbergen sich die Lauscher und vor allem die Lauscherinnen überhaupt keine Mühe gaben. Der Investigator hatte noch nie eine Untersuchung vor so viel Publikum geführt und kam sich bisweilen vor wie der Hauptdarsteller in einem nur mäßig interessanten Bühnenstück, denn natürlich waren die wirklich wichtigen Informationen in diesem Rahmen kaum zu erhalten. Immerhin wusste er bald, wie viele Tote es nun eigentlich schon gegeben hatte und in welcher verwandtschaftlichen Beziehung sie zueinander standen. Aber auch

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