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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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gesamte Land vom Punjab bis nach Benares in Brand. Einzelne englische Garnisonen konnten sich in verzweifelten Kämpfen halten, aber die meisten wurden abgeschlachtet, und überall wurden englische Zivilisten, arm oder reich, Frauen und Kinder ermordet; nicht weil sie irgendetwas getan hatten, sondern nur, weil sie Briten waren. Es erinnerte Gowers an die Berichte über die Sklavenaufstände, die man in New Orleans nur leise, vor Entsetzen flüsternd, weitergegeben hatte. Hier wie dort wurden keine Gefangenen gemacht, nur immer scheußlichere Massaker begangen.
    Die entmachteten Herrschergeschlechter beglichen nun alte Rechnungen – mit den Briten und untereinander. Den fast widerstrebenden alten Mogul in Delhi hatten die Aufständischen als ein Symbol indischer Unabhängigkeit an ihre Spitze gestellt, aber dennoch war die Erhebung keine nationale, zersplitterte bald in Anarchie und Partikularinteressen. Der Kampf dauerte nur deshalb so lange, weil die Briten Zeit brauchten, um ihre Kräfte zu sammeln. Dann ging alles sehr schnell, und die weitreichendste Folge des Aufstands wurde nicht in Indien oder Bengalen, sondern im englischen Parlament beschlossen: Da die East India Company sich als unfähig erwiesen hatte, den Frieden in Indien aufrechtzuerhalten, wurde sie kurzerhand aufgelöst, und die britische Regierung trat in all ihre Rechte, Pflichten und glänzenden Geschäfte ein. Jetzt, 1866, gab es Gerüchte, die besagten, man bereite in London insgeheim schon die Krönung Viktorias zur Kaiserin von Indien vor.
    Cui bono? Wem nützt es? Dies war eine Frage, die sich der Investigator bei seinen Ermittlungen häufig stellte, und so begann er seine Untersuchung im Mordfall Mirza Innuzzar Baht mit der simplen Feststellung, dass alles, was in den letzten zweihundert Jahren in Indien geschehen war, den Engländern genützt hatte.
     

48.
     
    Die Investigator musste zwischen Eisrand und Küste kreuzen, um Kap Bathurst zu umrunden, deshalb hatten die schnellen Kajaks sie innerhalb von drei Stunden eingeholt. Sie umkreisten das Schiff so hartnäckig, dass McClure ihnen schließlich gestattete, an Bord zu kommen, und nun ging der Tauschhandel vom Vortag munter weiter, mit dem einzigen Unterschied, dass auf beiden Seiten stärker gefeilscht wurde. Besonders begehrt, aber nicht zu haben waren die glänzenden Kompasse und Fernrohre. Ein Eskimo, den der Maat Sainsbury durch sein Glas sehen ließ, fragte ernsthaft, ob man mit diesem Ding »bis morgen« sehen könne. Danach versuchte er in einem unbeobachteten Moment, es zu stehlen, was allerdings misslang.
    Das Fleisch an Bord, das die Eskimos probieren durften, hielten sie übereinstimmend für scheußlich und ungenießbar, nur sehr fettes Schweinefleisch fand geringen Beifall. Schlechtes rotes Wasser, ein 42er Bordeaux, den McClure anbot, wurde sogar schmählich wieder auf Deck gespuckt, worüber der Missionar eine Freude empfand, die er in Europa hätte beichten müssen. Dennoch erzählte jetzt ein Mann, der gestern auf der Jagd und nicht im Dorf gewesen war, eine Geschichte, die den Kapitän aufhorchen ließ. Er habe einmal zwei Boote mit Kabloonas gesehen, die auf dem Land hier ganz in der Nähe einige Tage in einem weißen Zelt gewohnt hätten. Sie hätten einen Eisbären getötet, und ihr Häuptling, ein dicker alter Mann mit weißen Haaren, sei am Strand immerzu auf und ab gegangen. Dabei habe er jedes Mal genau zwanzig Schritte gemacht und sich dann wieder umgedreht.
    »Wann war das?«, fragte McClure.
    »Vorgestern«, übersetzte Miertsching und fügte hinzu: »Das bedeutet, vor zwei Jahren, Sir.«
    »Richardson!«, rief der Kapitän erfreut und bezog sich dabei auf eine der ersten Franklin-Suchexpeditionen, die vor zwei Jahren die Küste zwischen dem Mackenzie und dem Coppermine River erkundet und unter anderem Kap Bathurst seinen Namen gegeben hatte. Er hatte Dr. John Richardson persönlich zwar nur einmal gesehen, aber das Gefühl, dass die Welt klein war und der Royal Navy gehörte, stellte sich trotzdem ein, als er den eisenharten alten Schotten von diesem Wilden so anschaulich beschrieben sah. Der Mann erhielt ein Geschenk für seine genaue Beobachtung, aber das erwies sich als Fehler, denn als die anderen davon erfuhren, wollten natürlich alle Kabloonas gesehen haben, überall, zu verschiedenen Zeiten.
    Die Mannschaft unterhielt sich derweil durch eine sehr eigenwillige Art der Mildtätigkeit. Eine der Frauen war ins Wasser gefallen, als sie an Bord

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