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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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markanten Erhebungen abgesucht hatten.
    »John-Gowers-Land«, sagte er halblaut, mehrmals und durch die Zähne seines Grinsens hindurch, aber er überlegte es sich dann anders. Jane-Gowers-Land, dachte er und vergaß für eine Weile, mit den Lidern zu schlagen.
    Wieder wollte er die magischen Worte, den uralten Ruf ausstoßen, Sehnsuchtsruf aller Seefahrer und Entdecker aller Zeiten: LAND VORAUS! Aber wieder zögerte er. Columbus, Vespucci, Cabot, Frobisher, Davis, James Cook, James Ross, Parry, Franklin, die gesamte Admiralität, alle Lords, die Königin und ganz England – er stand auf der Spitze einer Pyramide. Was, wenn er einfach den Mund hielte?
    McClure würde diesem Land einen anderen Namen geben, es für Großbritannien und seine Königin in Besitz nehmen, die Geografen würden es auf ihren Karten verzeichnen, die Welt es im Buch ihres Wissens einschreiben. Gelehrte, Universitäten, die Royal Geographic Society würden darüber diskutieren, Schulkinder seine Lage auswendig lernen, Unternehmer und Politiker auf seine Bodenschätze oder sonstige Rentabilität spekulieren – aber nicht jetzt!
    Nicht, solange John Gowers, Schiffsjunge, Vollwaise, vierzehn Jahre alt, durchgefroren und arm wie eine Kirchenmaus, es nicht wollte. Was, wenn Columbus’ Toppgast im entscheidenden Moment nichts gesagt hätte?!
    Er setzte das Fernrohr ab, knetete wieder Leben in seine steifgefrorenen Finger und lachte leise, fast zehn Minuten lang. Dann zog er seine kurze Tonpfeife hervor, stopfte sie und setzte sie unter einigen Schwierigkeiten in Brand. Das Schiff, blind im Nebel, lief langsam, aber stetig auf seinen Berg zu, dessen Konturen er nun schon ohne Fernrohr ausmachen konnte.
    Der Junge ließ seinen Geist dort spazieren gehen, während er rauchte und lachte. Und erst als seine Pfeife wieder erloschen war, als er durch das Fernrohr schon kleine weiße Fetzen, Seevögel vor der steilen dunklen Felswand des unbekannten Landes auszumachen glaubte, räusperte er sich, atmete noch einmal tief durch und rief dann sehr ruhig, sehr bedächtig, und letztlich nur, um den herrlichen Anblick mit jemandem zu teilen: »LAND VORAUS!«
    Die Investigator zuckte förmlich zusammen, wie nach einem elektrischen Schlag. John hörte, wie sein Ruf aufgegriffen wurde, wie praktisch jeder Mann an Deck lauter als nötig weitergab: »LAND VORAUS!«, bis ein einziger Chor daraus wurde.
    Keine Minute später hörte er Rascheln, heftige Bewegung in den Wanten aller Masten, und überall tauchten jetzt einzelne Köpfe aus dem Nebel auf, die sich erst lange und neugierig dem unbekannten Land und dann kurz, aber immer wieder, verwundert, stirnrunzelnd dem Schiffsjungen zuwandten. Nach fünf Minuten erschien auch der Kapitän selbst im Krähennest, keuchend vor Anstrengung, ohne Mantel und Handschuhe. John stand mit gekreuzten Armen an den Großmast gelehnt, als McClure nach einem langen Blick auf das schon überdeutlich aufragende Vorgebirge misstrauisch seinen Ausguck musterte.
    »Der Nebel hat sich ganz plötzlich gehoben, Sir«, sagte John ruhig, »und da war es!« McClure holte aus, als wollte er dem Jungen eine Ohrfeige geben, aber dann grinste er wie ein Verrückter, und seine Hand fiel schwer auf Johns Schulter.
    »Alle runter!«, befahl er laut und brüllte noch hinterher: »Ein Glas Rum für jeden Mann. Und zwei für Mr. Gowers!« Anschließend blieb der Kommandant eine Stunde lang allein mit seiner ersten wirklichen Entdeckung und gab sich all den Gefühlen und Überlegungen hin, die der Schiffsjunge bereits kannte.
     

52.
     
    Niazoo war sauber gewaschen, verschleiert und wie eine Fürstin gekleidet, ihre gebrochenen Hände mit seidenen Tüchern bandagiert. Gowers hatte vor allem deswegen auf eine große, quasi öffentliche Untersuchung des Falles gedrängt, um diese Zeugin zu schützen, hatte befürchtet, dass man die Dienerin sonst kurzerhand ermorden könnte. Aber als Niazoo jetzt vor ihm saß, wusste er, dass er sich getäuscht hatte.
    Die Macht, in deren Haus er war, gab und nahm aus eigener Herrlichkeit; sie fragte nicht, ob jemand guthieß, was sie tat, und wenn sie gewollt hätte, dass Niazoo starb, hätte sich auch jemand gefunden, der die Dienerin auf offenem Marktplatz erschlagen hätte. Niazoo wusste das. Wusste, dass sie ihren Herren gehörte und immer gehört hatte, und war weder froh wegen des Guten noch rachsüchtig wegen des Bösen, das ihr widerfahren war. Nur schlug sie die Augen nieder vor Dankbarkeit und aus Scham, weil

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