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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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Schlamm. Sie beschlossen deshalb, das Minto Inlet nicht entlang der Küste zu umrunden, sondern die dreiundzwanzig Meilen breite Bucht auf dem Meereis zu überqueren. Da ein starker Südwind sie ohnehin in diese Richtung schob, schien diese Entscheidung zunächst die richtige zu sein. Auch der dichte Nebel irritierte sie nicht, denn nach dem Regen war der Nebel normal, und noch immer kamen sie gut voran und behielten den Wind im Rücken.
    John, bäuchlings auf dem Schlitten, sah naturgemäß als Erster, dass das Eis unter ihnen allmählich durchsichtig wurde, und das hieß: dünner. Er glaubte auch, deutlich die Tide zu spüren und aufgrund seiner niedrigen Lage bisweilen eine leichte Wölbung des Eises vor ihnen wahrzunehmen. Kein Zweifel, das gefrorene Wasser unter ihren Füßen hob und senkte sich leicht; sie gingen auf Wellen. Schon hörte er ein feines Knistern und Knacken und schließlich das Geräusch, das sie alle gefürchtet hatten: wiederum wie ein einzelner, weit entfernter Gewehrschuss. Die Scholle, auf der sie gingen – Meilen um Meilen im Durchmesser –, war vom Land losgebrochen. Falls sich jetzt noch der Wind drehte, würden sie aufs offene Meer hinausgeblasen. Zwar hatte McClure, aus Erfahrung klug geworden, eines der aufblasbaren Halkett-Boote mitgenommen, aber im Ernstfall bot es nur Platz für fünf Männer, und sie waren zu acht.
    Da die Konsequenz daraus allen klar war, zögerte McClure, das Boot aufblasen zu lassen, auch als er aufgrund der schon zurückgelegten Entfernung wusste, dass etwas nicht stimmen konnte. Sie hatten bereits mehr Meilen zurückgelegt, als die Bucht breit war, liefen also entweder im Kreis oder waren mitsamt dem Eis, auf dem sie sich befanden, aus der Bucht hinausgetrieben worden. Der Nebel machte es unmöglich, sich darüber zu orientieren, also befahl er mit der größtmöglichen Ruhe, die er heucheln konnte, das Lager aufzuschlagen, bis die Sicht besser werden würde.
    Schlafen konnte niemand in dieser dreistündigen Nacht, in der die Sonne nicht unterging. Sie klammerten sich an die Zeltbahnen, damit sie nicht im immer noch stürmischen Wind davonflögen, lauschten auf das Gurgeln der schwarzen See unter dem Eis und hofften, dass es nicht direkt unter dem Zelt aufbrechen würde. Am Morgen, beziehungsweise zu der Zeit, die die Uhr des Kapitäns als Morgen auswies, hatte sich der Nebel gehoben, und sie erkannten die Küste von Prince-Albert-Land fünf Meilen entfernt an Steuerbord. Immerhin waren sie in die richtige Richtung getrieben.
     

75.
     
    Während die Männer das Zelt abschlugen, starrte McClure durch sein Fernrohr unverwandt zur Küste hinüber und fragte sich, ob sie sich entfernte oder näher kam. Er wusste, dass er jetzt nurmehr Kapitän auf einem Eisfloß war, das er nicht steuern konnte. Es hätte ein ständiges Messen und Berechnen ihrer Position sowie langwieriges Koppeln erfordert, um zu bestimmen, wie dieses Floß sich verhielt, ob es sich drehte, wie schnell und wohin es trieb. Ihm fehlte die Zeit dazu, und so beschloss er, sich einer der besseren Eigenschaften seines Schiffsjungen zu bedienen.
    »Mr. Gowers, können Sie stehen?«, rief er unter dem Glas hindurch.
    »Ja, Sir«, erwiderte John, »wenn jemand mich stützt.«
    »Dann werfen Sie einen Blick durch das Glas und sagen mir, welchen Küstenabschnitt Sie in Nordost sehen!« McClure wusste, dass der Junge eine Küstenlinie, die er einmal gesehen hatte, nicht wieder vergaß, und sie waren im letzten Herbst in dieser Gegend gewesen. Er fasste ihn unter den Schultern und richtete ihn auf. Nach mehreren schmerzhaften Anläufen stand John schließlich auf dem Schlitten, das Glas vor den Augen und den Ellenbogen auf die Schulter des Kapitäns gestützt.
    »Walker Bay«, sagte er nach weniger als einer Minute. »Kap Peter Richards – Pemmikan Point!« Er wies mit dem rechten Arm kurz in zwei Richtungen und hatte damit ein Dreieck gebildet, dessen Spitze er selbst war.
    »Sehr gut«, sagte McClure. Damit konnte man arbeiten. »Können Sie mir etwas über die Fahrt sagen, die wir machen?«
    Das war eine weit schwierigere Aufgabe. John erstarrte für fast zehn Minuten zu einem unbeweglichen Denkmal aller Toppgasten aller Zeiten und Schiffe, spürte, wie das Blut aus seinen Fingerspitzen wich, als sie allmählich erfroren, aber sah auch im Glas, wie die Schatten auf der fernen flachen Küste sich bewegten, und sagte dann: »Fahrt Nordnordwest, Sir. Aber wir drehen uns leicht nach

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