Das blaue Siegel
es tun.«
»Entschuldigung«, sagte Gowers. »Bitte setzen Sie sich doch!« Dann befahl er, seine Zigarrenkiste und Sack aufzutragen – was immer das sein mochte. Währenddessen setzte sich der alte Mann mit allen Anzeichen eines seltenen Vergnügens auf einen gepolsterten Armsessel und strahlte bei der Berührung mit dem kühlen Lederbezug vor Behagen. Man sah deutlich, dass er sich fühlte wie ein Kind im Bonbonladen, aber auch, dass er sich selbst in dieser Rolle nicht allzu ernst nahm.
Mit einem Nicken wies Gowers seine Leibwächterin doch noch hinaus und widmete sich dann seinem unorthodoxen Gast. Und schneller, als er eigentlich wollte, stellte er die andere Frage, die ihn ebenfalls schon seit Stunden beschäftigte: »Stimmt es, dass Sie dreihundert Jahre alt sind?«
»Wer erzählt solchen Unsinn?«, erwiderte der alte Mann gut gelaunt. »Ich bin gerade mal zweihundertneunundachtzig.«
»Tja«, sagte der Investigator und schüttelte milde den Kopf. »Dass die Leute immer gleich übertreiben müssen!«
78.
Sie gingen nur noch von Bord, wenn es unbedingt sein musste, seit Mount Poop eines Morgens ohne Vorwarnung in den Fluten versunken war. Dennoch quälte das Eis sie noch fast einen Monat lang, indem es überall aufbrach, an beiden Seiten der Prince-of-Wales-Straße, auch jenseits der Princess-Royal-Inseln – nur nicht dort, wo ihr Schiff eingefroren lag. Immerhin hatten sie nun wieder flüssiges Wasser in unbegrenzter Menge zur Verfügung, und die Investigator verwandelte sich in ein Waschhaus. Von Mast zu Mast wurden Taue und Leinen gespannt, an denen Kleidungsstücke in den abenteuerlichsten Zuständen zum Trocknen aufgehängt wurden. Selbst auf dem Eis wurde die Wäsche zum Bleichen ausgelegt.
Das führte zu einem nicht unbeträchtlichen Verlust an Kleidungsstücken und Decken, als das Eis am 14. Juli 1851 so plötzlich aufbrach, dass sie die Wäsche zurücklassen mussten. Es war, als wäre ein vielzelliger Organismus mit einem Schlag wieder zum Leben erwacht. John, immer noch unter Deck, fühlte wieder die vertrauten Bewegungen, das Rollen und Stampfen des Schiffes in seinem natürlichen Element, hörte das Knacken der Planken, Singen der Taue und die Segelbefehle, die lauter gebrüllt wurden als notwendig. Er freute sich am Schaukeln seiner Hängematte wie ein Kind, aber einige Männer, unter ihnen der Missionar, wurden tatsächlich seekrank in diesen ersten Stunden nach ihrer langen Gefangenschaft.
Das Manövrieren im schweren Eis war immer noch schwierig, bisweilen gefährlich, aber die Welt lag endlich wieder vor ihnen wie eine klare Aufgabe. Sie hatten die Nordwestpassage entdeckt – nun ging es nur noch darum, sie zu durchfahren und auf diesem kürzesten Weg nach Hause zurückzukehren. Zwanzigtausend Pfund erwarteten sie in England für diese Leistung! Dass Franklin oder einer seiner Männer noch lebte, glaubte nach diesem Winter niemand mehr. Sechs Überwinterungen in solchem Eis – das war nicht menschenmöglich.
Einen Monat lang versuchte McClure alles, um in den Melville Sound zu gelangen; er versuchte es im Westen, dicht an der Küste von Banks-Land, kreuzte dann wieder nach Osten, durch schweres Eis, fuhr in jeden Kanal, der sich auftat, und sprengte sich schließlich mit Massen von Schießpulver bis auf lächerliche einundzwanzig Meilen an die ersehnte Wasserstraße heran. Dort mochte das Schiff seinetwegen wieder einfrieren, die Eisdrift würde es dann nach Osten tragen, mit ein wenig Glück nach Kap Walker, in die Barrow Strait, den Lancaster Sound, in die Baffin Bay. Aber er hatte jetzt kein Glück mehr.
Am 13., 14., 15. August meldeten die Toppgasten offenes Wasser im Süden – aber im Norden nur schweres Pack: eine undurchdringliche weiße Mauer, höher als das Schiff. Er überzeugte sich selbst davon, blieb den halben Tag in den Wanten, folgte der grausam ununterbrochenen Linie des festen Eises stundenlang mit Augen und Fernglas. Keine Maus kam hier durch! Grimmig ließ er nach Süden drehen, Richtung Nelson’s Head, und schlief dann zum ersten Mal seit Wochen wieder länger als drei Stunden am Stück. Es war Miertsching, der Missionar, der ihn weckte.
»Darf ich Sie kurz sprechen, Sir?«
»Bitte!« McClure bewohnte die einzige Kabine an Bord, die außer seiner Koje eine zweite Sitzgelegenheit besaß. »Was kann ich für Sie tun?«
Der Kapitän befürchtete, seinem Dolmetscher wieder einmal den naheliegenden Gedanken ausreden zu müssen, dass er auf dieser
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