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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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Köpfe – und natürlich noch ein paar andere Sachen, die nur Mediziner identifizieren können, wenn sie wollen. An dem Tag wollte ich kein Mediziner mehr sein. Ich wollte auch kein Engländer mehr sein. Ich wollte nicht mal mehr Mensch sein.« Als würde er diese Anwandlung existenziellen Ernstes und die Bilder, die sie ausgelöst hatten, weglachen können, fuhr Meecham mit hysterischer Belustigung fort: »Unsere Kanoniere zogen irgendwann ihre Sachen aus, um sie nicht hoffnungslos einzusauen, Mr. Gowers. Nackte weiße Männer banden einen ganzen sonnigen Morgen hindurch nackte braune Männer vor die Geschützmündungen und entwickelten eine erstaunliche Fantasie dabei. Mit dem Gesicht in die blutigen, dampfenden Rohre, mit der Brust, dem Unterleib. Einige setzten sie regelrecht auf die Kanonen, den finalen Arschtritt nannten sie das!«
    Gowers sah, dass seine Erinnerungen für den Arzt immer noch lebten, und damit er sich nicht noch weiter in ihnen verlor, fragte er: »Und die Anführer? Nana Sahib und Tantia Topi?«
     

73.
     
    Die Namen ernüchterten den Mann schlagartig. Als hätte ihn ein Guss kalten Wassers geweckt, schüttelte Meecham wieder einmal die Bilder von sich, die ihn seit fast einem Jahrzehnt in jeder Nacht quälten. Er fand auch gleich wieder in die Rolle des immer und durch alles leicht amüsierten jungen Oberschichtengländers zurück.
    »Oh, Tantia ist gehängt worden, nachdem er uns noch fast zwei Jahre lang Ärger gemacht hat. Hat Gwalior erobert und all das. Aber zuletzt besaß er eigentlich nur noch eine Räuberbande, keine Armee. Guerilla-Krieg, Sie verstehen? Ganze neun Mann waren noch bei ihm, als sie ihn irgendwo oben bei Delhi schließlich geschnappt haben.«
    »Wie wurde er geschnappt?«
    »Wie man solche Leute immer schnappt: durch Verrat.«
    »Wer hat ihn verraten?«
    Meecham zuckte die Achseln. »Ich war leider nicht dabei, Mr. Gowers. Aber all diese kleinen Rajas und Nawabs haben sich zweihundert Jahre lang gegenseitig an die Engländer verraten. Da wird sich also jemand gefunden haben.«
    »Und Nana Sahib?«
    Wieder hob der Arzt nur die Schultern. »Das weiß niemand.« Er grinste. »Wir haben den Fehler gemacht, ein Kopfgeld auf ihn auszusetzen, das hat zu entsprechend vielen Gerüchten geführt. Und zu einem guten Dutzend toter Nanas, von der Malabar-Küste bis rauf nach Afghanistan. Aber keiner war anscheinend überzeugend genug, um das Preisgeld zu zahlen.«
    »Was glauben Sie?«
    »Ich denke, er lebt noch. Irgendwo im Himalaya. Aber eines Tages wird er von den Bergen herabsteigen und Indien von den Briten befreien!« Der Arzt imitierte den schwärmerischen Tonfall eines geschlagenen Meuterers so gekonnt, dass Gowers lächeln musste. »Woher haben Sie das denn?«
    »Ich habe einen Bekannten da oben, der …« Meechams Ironie wurde plötzlich zu dem verträumten, fast ein wenig neidischen Wohlwollen, mit dem Alexander der Große über Diogenes gesprochen haben mochte. »Oh, den müssen Sie kennenlernen, Mr. Gowers. Ist zurzeit in Kanpur. Ziemlich verrückt, aber sehr liebenswürdig. Und weiß mehr über Indien als alle anderen zusammengenommen.« Und mit einem schelmischen Blick fügte er hinzu: »Na ja, er ist ja auch schließlich am längsten da!«
    So, wie man bei einem Witz nach der Pointe fragt, tat Gowers ihm den Gefallen: »Wie meinen Sie das?«
    »Er war einer der ersten Engländer im Land. Kam gleich nach den Jungs von der East India Company hier an, 1615! Jedenfalls behauptet er das.«
    »Und Sie glauben ihm«, sagte nun Gowers ironisch, der den Arzt jetzt nur noch für betrunken hielt. Lange genug hatte es ja gedauert. Draußen wurde es bereits wieder hell. Meecham nahm einen letzten Zug, drückte die Zigarre aus und blies dann den Rauch als ein sichtbares Seufzen von sich. Die Geschichte, die er nun zu erzählen hatte, gehörte offensichtlich zu den genussreicheren seines Lebens.
    »Jemand, der seinen Herzschlag willkürlich anhalten kann, hat eine gewisse Überzeugungskraft, ja.« Und als der Investigator nur skeptisch die Augenbrauen hochzog, fügte er hinzu: »Ich habe ihn mal untersucht, wissen Sie, vor ein paar Jahren. Abgehorcht, abgeklopft, Reflexe, das ganze Programm. Zumindest ist der Mann sehr alt. Und als ich ihm sagte, dass da ein Geräusch an seinem Herzen sei, das mir nicht gefällt, erwiderte er: So? Das lässt sich ändern! Und dann … Dann war er tot, Mr. Gowers. Fünf Minuten lang tot, jedenfalls im medizinischen Sinn. Kein Puls, kein

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