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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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Herzschlag, nichts. Sie hätten mal mein Gesicht sehen sollen!«
    Der Arzt schüttelte den Kopf und brummte: »Muss eine Art Trance gewesen sein, wie bei den Fakiren. Meditation, all das. Jedenfalls habe ich danach nicht mehr versucht, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, als er sagte, er sei dreihundert Jahre alt. In Nepal, wissen Sie, und noch weiter im Norden, in Tibet, wo die Berge wirklich, wirklich hoch sind, soll es so eine Art Mönche geben, die tausend Jahre und älter werden.«
    »Na, da ist dieser ja noch ein junger Hüpfer!«, sagte Gowers so belustigt wie ungläubig. Als er wenig später die Wohnung des Arztes verließ, war es endgültig Morgen geworden. Das helle Grau der Dämmerung zeigte bereits einen blauen Schimmer, und die Luft würde nicht mehr lange brauchen, um wärmer zu werden als die sich darin bewegenden Menschen.
    Gowers beobachtete müde, wie eine einzelne Taube sich in weiten Kreisen höher und höher in den Himmel schraubte. Als sie nur noch ein kleiner dunkler Fleck auf dem beginnenden Tag war, wandte sie sich nach Osten und flog langsam den Fluss hinunter.
     

74.
     
    Ein Schwarm Wildgänse flog schreiend über die Bucht und das Lager der Kanghiryuakmiut hinweg nach Norden. Sie waren schon erstaunlich niedrig, fast am Ende ihrer langen Reise, und McClure holte seine Flinte vom Schlitten, um eine davon zu schießen. Einerseits, weil diese braven Leute am Ende der Welt das Fleisch brauchten und ihm leidtaten, andererseits, um Eindruck zu schinden. Je größer der Eindruck war, desto bereitwilliger würden sie die Briefe verwahren, die er hier zu hinterlegen gedachte: einen kurzen Bericht über seine Entdeckungen und seine weiteren Pläne, auszuhändigen an die ersten Weißen, die in diese Gegend kamen, und weiterzuleiten an die britische Admiralität in London.
    Leider fiel die getroffene Gans ins Wasser und versank, ehe sie geborgen werden konnte. Der Schuss verfehlte jedoch seine sonstige Wirkung nicht, und nachdem zeitweise eine fast freundschaftliche, gleichberechtigte Stimmung unter Gastgebern und Besuchern entstanden war, waren die Eingeborenen, die nicht begriffen, dass man ohne Nutzen töten konnte, mit einem Mal wieder eingeschüchtert und kleinlaut. Die Briefe allerdings würden sie mit Sicherheit gut bestellen.
    Nur wenige Stunden, nachdem sie das kleine Lager betreten hatten, rüsteten sich die Engländer wieder zum Aufbruch, was vor allem Miertsching bedauerte. Er hatte über den Glauben und das Weltbild dieser Leute noch zu wenig erfahren, um auch nur den Versuch einer Missionierung zu machen. Im Wesentlichen schienen ihre Auffassungen denen der Eskimos von Kap Bathurst zu entsprechen, und das einzig Neue, was er von ihnen erfuhr, war, dass es irgendwo im Land einen hohen Berg gäbe, auf den ihre Vorfahren sich einst vor einer großen Flut gerettet und auf dem sie noch eine Zeit lang gelebt hätten.
    Der Missionar verteilte zuletzt seine Blechkreuze, der Kapitän einige Nähnadeln, Sägen, Messer und kleine Spiegel, die allerdings mit mehr Ehrfurcht als Freude entgegengenommen wurden. Noch immer verstanden sie nicht, was Geschenke waren, und als McClure zum Abschied einer jungen Eskimofrau, die ihr Kind auf dem Rücken trug, seinen großen roten Schal um den Hals legte, erschrak sie sichtlich. Zitternd und mit Tränen in den Augen zog sie dann den Säugling aus ihrer Kapuze, küsste ihn noch einmal und bot ihn dem Häuptling der Kabloonas als Gegengabe an. Miertsching überzeugte sie davon, dass dies nicht nötig sei, und erleichtert fragte sie nun, wobei sie ihren Schal befingerte, was für Tiere das seien, die solche roten Felle haben.
    John war der Einzige, der sich auf einen wirklichen Handel einließ. Kurzzeitig und unter Schmerzen aus seinen Fieberträumen erwacht, hatte er im Zelt des Angakok eine Art Brille entdeckt, ein flaches, längliches Stück Narwalhorn, in das schmale Sehschlitze eingeschnitten waren und das man mit Robbendarm rings um den Kopf befestigte. Er gab sein gebrauchtes Taschentuch dafür, und weil er sich dabei zu schäbig vorkam, legte er noch seine wollene Seemannsmütze dazu, die dem alten Mann seine letzten beiden Winter hindurch gute Dienste leistete, ehe sie sich auflöste und zu Nähmaterial verarbeitet wurde.
    Obwohl ihr Schlitten ohne den Bären erheblich leichter war, ging der Rückmarsch über Land nur langsam voran. Es regnete, der Schnee taute an vielen Stellen völlig weg, und oft zogen sie den Schlitten praktisch durch braunen

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