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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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steuerbord.«
    »Welchen Kurs würden Sie steuern, Mr. Gowers?«
    »Nord, Sir. Zwei Strich backbord, auf Berkeley Point zu.« McClure half dem Jungen, sich wieder auf den Schlitten zu legen, und befahl dann: »Nord! Zwei Strich backbord, auf Berkeley Point!«
    Die Männer wunderten sich ein wenig über das blinde Vertrauen, das der Kapitän in die Fähigkeiten seines Moses setzte, erinnerten sich dann aber daran, dass die beiden schon lange zusammen gefahren waren, und gehorchten. Der Wind blies stetig aus Süden und schob sie mitsamt dem Eis voran. Nach zwei Stunden sahen sie tatsächlich Berkeley Point auftauchen, fürchteten aber, westlich daran vorbeizumarschieren, weil sie die Drehung der riesigen Eisscholle nicht einschätzen konnten. Erst als die Landzunge im Verlauf der nächsten drei Stunden langsam in ihr Blickfeld wanderte, obwohl sie ihren Nordkurs hielten, wurde ihnen richtig klar, was John Gowers eben getan hatte.
    »Wenn der den Arsch an die Bandsäge hält«, sagten sie später, inspiriert wohl durch seine Verletzung, aber auch voll ehrlicher Bewunderung, »kann er genau sagen, welche Zacke ihn zuerst schneidet!« Nun drehte sich die Eisscholle, auf der sie schwammen, nicht annähernd so schnell wie diese neueste Erfindung der Ingenieurskunst, und den Punkt vorauszusagen, an dem sie bei ihrer gemächlichen Fahrt Nordnordwest wieder gegen das Land stoßen würde, war natürlich auch mit sehr viel Glück verbunden. Dennoch spürten sie deutlich den Ruck, mit dem ihr riesiges Floß ziemlich genau vor Berkeley Point zum Stehen kam, und waren eine Dreiviertelstunde später an Land. Dort erbrachen sich zwei der Matrosen – weniger aufgrund der Strapazen als der dabei ausgestandenen Angst.
    Sie verließen das Land erst wieder, als sie zwei Tage später die Princess Royal Islands ausmachen konnten. Hier waren die Männer so erschöpft, dass der Kapitän vorauslief, um vom nur zwei Stunden entfernten Schiff Hilfe zu holen. John erhielt bis zur Rückkehr des jungen Leutnants Wynniat dessen Kabine, damit Doktor Armstrong seine Wunde besser versorgen konnte. Er schlief viel in der ungewohnt ruhigen Umgebung, fand aber dann, versteckt zwischen Matratze und Kojenrahmen, einige fotografische Aufnahmen, Calotypien, die ihn lange wach hielten. Er überlegte nicht einmal, ob er seine Entdeckung melden müsste, sondern benutzte sie zu eben dem Zweck, zu dem der gerade zwanzigjährige Wynniat sie an Bord gebracht hatte.
    Als der Leutnant sechs Tage später – als Letzter – von seiner Schlittenreise zurückkehrte, die ihn bis auf hundertfünfzig Meilen an Kap Walker heran- und in eine Bucht gebracht hatte, die heute seinen Namen trägt, zog der Junge ins Mannschaftsquartier um, wo seine langsam verheilenden Wunden ihm neben Mitleid aber immer wieder auch die spöttische Frage eintrugen, was denn der Bär eigentlich von ihm gewollt habe?
     

76.
     
    Der alte Mann war »mit dem Himmel bekleidet«, was nicht nur eine euphemistische Umschreibung für seine Nacktheit, sondern vor allem für seine Bedürfnislosigkeit war. Obwohl er keiner der zahlreichen indischen Religionsgemeinschaften angehörte, lebte er zumindest im Sommer und in der Ebene gern das Leben eines solchen Digambara , weil es so herrlich einfach war. Er schlief, wo er wollte und wann er wollte, ohne die alte europäische Angst, irgendetwas zu verlieren oder zu versäumen. Vor den Menschen und ihrer Bosheit schützten ihn die Tatsache, dass er nichts besaß, und ihre heilige Scheu davor, dass er auch nichts besitzen wollte. Wenn er Hunger hatte, klopfte er an die nächste Tür, und die Menschen gaben ihm zu essen, um ein wenig Gnade zu erwerben vor ihren Göttern oder zumindest vor sich selbst. Es war nie viel, aber er war mit dem Wenigen zufrieden. Und wenn es zu wenig war, gab es ja viele Türen.
    In seiner Jugend hätte vor allem das Verlangen nach Frauen ein solches Leben unmöglich gemacht, aber die Natur hatte diesen Trieb schließlich beruhigt, wie sie alles schließlich beruhigte. Manchmal träumte er noch von Frauen und seiner Jugend und erwachte lachend aus solchen Träumen, weil sie so albern waren. Vor den Begehrlichkeiten der Frauen ihrerseits bewahrten ihn schon lange das Alter seines Fleisches, die Schlaffheit seiner Hinterbacken, sein ungeschnittenes graues Haar. Nur auf seinen mit den Jahren immer größer gewordenen Hoden spürte er noch hin und wieder die neugierigen Blicke junger Mädchen und die neidischen der jungen Burschen.
    Das

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