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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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Leben ohne Kleider war im Sommer angenehmer als ein Leben mit und in Kleidern. Für Kleider. Man schwitzte weniger, und der wenige Schweiß verdunstete, ohne zu stinkendem Schmutz zu werden, von dem man sich mühsam mit Wasser und Sand befreien musste. Längst hatte die Sonne seine Haut dunkel gebrannt, waren die Sohlen seiner Füße fast zu Leder geworden. Oben in den Bergen trug er selbstverständlich Kleider, Sandalen, alte Lumpen und Decken, um die er in den Hütten des Nordens anfragte. Denn der alte Mann war kein Asket; er wusste, dass es keinen Sinn hat zu leiden, zu frieren oder sich kleine Genüsse zu versagen, wenn sie sich anbieten. Sack , schwerer Süßwein, den er ewig nicht getrunken hatte, lockte ihn noch gelegentlich, Tabak eigentlich immer. Aber das waren eben nur Näschereien, die er gern nahm, wenn er sie kriegen konnte, die er aber nie wirklich entbehrte und zu deren Erlangung er also nichts oder nur wenig tun musste.
    Der Weg zu dem kleinen Palast am Ganges-Kanal von Kanpur war wenig. An der schweren, eisenbeschlagenen Pforte zu klopfen war wenig. Er verneigte sich mit aneinandergelegten Fingerspitzen vor dem schlanken jungen Türdiener, der öffnete, und sagte: »John Gowers.«
     

77.
     
    Gowers hatte nur unruhig geschlafen, obwohl Ishrat mit gezogenem Schwert über seinen Schlaf wachte. Vielleicht war es gerade ihre Anwesenheit, die ihn irritierte, oder die düsteren Geschichten Meechams, die noch in ihm arbeiteten. Aber selbst als er mithilfe seiner Konzentrations- und Gedächtnissysteme beides aus seinem Kopf löschte, wie man eine Lampe auslöscht, fand er keine Ruhe und war lange vor Mittag schon wieder auf den Beinen. Er wusste, dass es auch nicht der Fortgang der Ermittlung war, der ihn umtrieb, sondern allein die Tatsache, dass die böse Absicht wusste, wo er war und was er war.
    Nicht der Investigator, der Ermittler, sondern der eben erst dreißig Jahre alte Mensch John Gowers fragte sich, ob er beim nächsten Mordversuch noch einmal so viel Glück haben würde. Dass es noch einen Versuch geben würde, stand für ihn außer Frage, denn es gab offensichtlich nicht einen, sondern viele Mörder. Die böse Absicht beherrschte eine geheime Organisation, deren Strukturen er zwar noch nicht durchschaute, aber wahrnahm, wie ein Fuchs schon auf Meilen die Meute wahrnimmt.
    Wie dem entgehen? Er konnte unmöglich auf Dauer jeden Diener und Sepoy im Auge behalten, sich nach jedem Wagenknecht, Wasserträger umdrehen. Früher oder später würde das Messer ihn treffen. Unterzutauchen, falsche Fährten zu legen wäre die logische Konsequenz gewesen, aber damit beraubte er sich auch des einzigen Vorteils, den die neue Sachlage trotz allem hatte: Er musste die böse Absicht nicht mehr entschlüsseln, musste niemanden mehr suchen – er wurde gesucht.
    Den nächsten Mörder lebend zu fangen konnte die Lösung sein, aber sie war natürlich äußerst riskant, und wer weiß, ob er den Kerl zum Reden bringen würde. Lediglich eine seiner zahlreichen Kombinationen schmeichelte dem Investigator jedoch: Man hatte nicht versucht, ihn in Delhi zu töten. Das hieß, dass er zumindest auf dem richtigen Weg war!
    In diesem Moment klopfte es an der Tür, und der schlaksige Junge, der gewöhnlich im Hof vor sich hin gähnte, kündigte einen unangemeldeten Besucher an. Instinktiv näherte sich Gowers seinem Reisebündel und dem darin verborgenen Revolver, und Ishrat stellte sich sofort schützend zwischen ihn und die Tür.
    »Guten Tag, Sir«, sagte der nackte alte Mann, der zur Tür hereinkam und bei Weitem das Ungefährlichste war, was Gowers seit Langem gesehen hatte. »Clifford Meecham lässt Sie grüßen. Er versichert Sie seiner Freundschaft und hofft, dass ich Ihnen behilflich sein kann. Lassen Sie mich hinzufügen, dass ich eher wegen Tabak hergekommen bin und auch ein Gläschen Sack nicht verschmähen würde.«
    Gowers wusste im ersten Moment nicht, was ihn mehr erheiterte: die Nacktheit, die Ehrlichkeit oder die etwas altertümliche Ausdrucksweise seines Besuchers. Mit einem kurzen Blick auf Ishrat und ungeachtet der offenkundigen Tatsache, dass der Mann, so wie er war, durch die ganze Stadt gelaufen sein musste, fragte Gowers dennoch zuallererst: »Wollen Sie vielleicht etwas anziehen?!«
    »Nein«, sagte der alte Mann, als sei das ein nicht nur überflüssiges, sondern geradezu absurdes Ansinnen. »Nur Tabak und Sack , vielen Dank. Und wenn Sie mich ausdrücklich auffordern, Platz zu nehmen, würde ich

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