Das blaue Siegel
belustigt: »Chaucer nennt es einen der drei Teile des menschlichen Geistes; Gedächtnis, Vernunft und Fantasie.«
Der Missionar schluckte hörbar an seinem Ärger, als dieser Name fiel, dann aber erreichten die Worte doch noch einen weniger beleidigten Teil seiner Seele, und er brachte es über sich, ihn selbst auszusprechen: »Chaucer scheint klüger zu sein, als ich annahm, Mr. Gowers. Einige der Autoren in diesem Buch würden ihm wahrscheinlich zustimmen, andere nicht. Wollen Sie es nicht herausfinden?«
John seufzte. »Ich kann nicht Deutsch, wie gesagt. Und ich weiß nicht, was mir das einbringen soll.«
»Systematik«, sagte Miertsching, griff nach einer der Seemannskisten, die im Mannschaftsquartier herumstanden, und setzte sich direkt zu dem Jungen. »Lassen Sie mich nur die erste Geschichte erzählen! 450 vor Christus …«
»Vor Christus?«, fragte John, der zuerst drauf und dran gewesen war, aus der Hängematte zu springen, dessen Abwehrhaltung nach diesen Worten aber zum ersten Mal bröckelte. Und immer ruhiger werdend hörte er die Sage von jenem alten griechischen Sänger, der fünf Jahrhunderte vor Christus, dem Christentum und seinen Missionaren als Erster entdeckt hatte, dass das Gedächtnis nicht nur chaotisches Erinnern, sondern auch systematisches Merken ermöglichte. Der zwischen Gedächtnisbildern und Gedächtnisorten unterschied und das Verhältnis zwischen beiden zu bestimmen versuchte. Zuletzt legte ihm der Dolmetscher das Buch oben auf die Shakespeare-Ausgabe und sagte, er würde ihm gerne gelegentlich das eine oder andere Kapitel daraus übersetzen.
Perikles war bei Shakespeare eine Art mittelalterlicher Odysseus, von diversen Stürmen hin und her über das Mittelmeer geworfen, die der alte Gower als Chorus – nur ein schwacher Abklatsch vom Prolog aus Heinrich V. – in gereimten Versen beschrieb, die für den Schiffsjungen quälender waren als jeder wirkliche Sturm. Das ganze Stück war schlecht gebaut; immer wieder waren es nur die haarsträubendsten Zufälle, die die Handlung und das Leben des Helden vorantrieben.
Irgendwann begann er, langsam durch das Gedächtnisbuch zu blättern, dessen Sprache er nicht verstand. Er las im ersten Kapitel die Namen, die Miertsching genannt hatte, sah sich weiter hinten die Zeichnungen an: abstrakte Kreise, Ringe, Räume, aber auch eine, die das Gedächtnis des Menschen als eine Bühne zeigte, auf der man mit einer überschaubaren und genau durchdachten Zahl an Requisiten, Kulissen und Akteuren jedes beliebige Stück aufführen konnte.
Er wog die Bücher in den Händen und fragte sich nicht , ob Shakespeare oder Joseph Mailath aus Wien ihm die Wahrheit über die Welt sagen könnte. Zuletzt suchte er nur noch nach Gründen, die gegen den Vorschlag des Missionars sprachen. Aber er fand keine mehr.
81.
Die Nacktheit des alten Mannes kam Gowers draußen, auf den Straßen, in den Feldern, viel natürlicher vor. Er selbst schwitzte in den ungewohnten, abgetragenen indischen Kleidern wie ein Schwein und litt besonders unter dem Puggree , dem Turban, der eng um seinen Kopf gewickelt war. Den Nacken und das Gesicht hatte er sich zum Schutz gegen die Sonne mit grauer Asche eingerieben, was allerdings in einem geradezu clownesken Verhältnis zu seiner blauen Brille stand.
Coryate hatte ihm den Vorschlag gemacht, seine Kleidung komplett abzulegen und das Ascheverfahren auf seinen gesamten Körper auszudehnen. Dergleichen Aufmachungen seien hierzulande unter Büßern und Sadhus , heiligen Männern, nicht unüblich – aber Gowers hatte dankend abgelehnt: »Lassen Sie mich erst mal hundertfünfzig werden, Babu!«
Als Chela , Schüler des Digambara, hielt er sein Inkognito für ausreichend geschützt. Im einzigen Lexikon, das er mit Meechams Hilfe in der Garnison von Kanpur aufgetrieben hatte, hatte er seinen Reisegefährten Thomas Coryate als einen Zeitgenossen Shakespeares identifiziert; einen Schriftsteller, der tatsächlich als einer der ersten Engländer in Indien aufgetaucht war, dort aber unter ungeklärten Umständen bereits 1617 ums Leben gekommen sein sollte. Zumindest wusste Gowers nun, wer sein merkwürdiger Begleiter sein wollte . Wer und was er darüber hinaus wirklich war: ein in jungen Jahren durchgedrehter Handelsagent, ein desertierter Soldat der Ostindientruppe – wer konnte das wissen? Und was hätte es geändert?
Mit Sicherheit war Coryate nur eines: sehr alt, denn mit der Zeit glaubte Gowers, in den Erzählungen des
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