Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski

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man wahlweise mit »Na, wenn es sonst nichts gibt« oder »Auch nicht schlecht« übersetzen konnte, und nahm wieder Platz. Gowers war froh, ihm wieder ins Gesicht sehen zu können, riss ein Zündholz an und gab ihm Feuer. Der alte Mann lehnte sich behaglich zurück, wobei der lederbezogene Sessel ein wenig knarrte, und schlug die Beine übereinander. Nur drei Quadratmeter Stoff und eine halbe Stunde beim Barbier, und er wäre auch in einem Londoner Club kaum aufgefallen.
    »Was sind Sie, John Gowers?«
    »Ich bin ein Investigator«, erwiderte Gowers und wollte gebetsmühlenartig »ein privater Ermittler« hinzufügen, aber Coryate kam ihm zuvor: »Und was ermitteln Sie?«
    »Ein Netz von Morden, Babu. Und ich möchte die Spinne finden.«
    »Gehen Sie den Fäden nach!«, lautete die Antwort so prompt, dass Gowers sich fragte, ob der alte Mann überhaupt den Mund aufgemacht hatte.


80.

    John hatte schon gelegentlich Shakespeare gelesen, sich aber nur auf die »großen« Dramen konzentriert und den beträchtlichen Rest links liegen lassen – vor allem der Versform wegen, mit der er sich nie anfreunden konnte. Verse schränkten nach seiner Ansicht die Gedanken auch ihres Lesers unzulässig ein, und wenn man sich diesem Zwang schon aussetzte, dann sollten es doch wenigstens großartige, weltbewegende Gedanken sein und nicht nur irgendwelche Geschichten. Dennoch hatte es bei ihm für Milton oder Spenser nie gereicht, denn wenn er schon das Glück hatte, ein wenig ungestörte Zeit mit einem Buch zu verbringen, erging sich sein formloser Geist lieber in latos campos prosae , dem weiten Feld der Prosa, wie es ein irischer Mönch tausend Jahre früher ausgedrückt hatte.
    Die vergangenen acht Wochen waren in dieser Hinsicht die schönsten seines Lebens gewesen; aufgrund seiner Verletzung vom Borddienst befreit, hatte er noch nie so viel zusammenhängende Zeit auf die Lektüre von Büchern verwenden können und wandte sich deshalb nach den umfangreichen Prosawerken Swifts und Smolletts mit mehr Appetit als Hunger noch einmal den Versen des Meisters aus Stratford zu. Gerade hatte er in dem eher abseitigen Perikles eine Art frühen Vorfahren entdeckt, der zu allem Überfluss auch noch in gereimten Versen sprach: To sing a song of old was sung, From ashes ancient Gower’s come 5 , als der verhasste Missionar ins Unterdeck kam.
    John hob sein Buch höher; nicht um sich dahinter zu verschanzen, sondern um dem Mann zu signalisieren, dass er es ihm bei Bedarf jederzeit über den Kopf hauen könnte. Aber diesmal gab es kein Entkommen.
    »Wie geht es Ihnen, Mr. Gowers?«
    »Hmm.«
    Johns Knurren konnte alles bedeuten, und der Missionar fuhr unbeeindruckt fort. »Der Kapitän hat mir erzählt, dass Sie viel lesen. Deshalb wollte ich fragen, ob Sie das hier vielleicht interessiert.« Er hielt ein schmales Buch hoch, dessen Titel der Junge, der unwillkürlich hinsah, jedoch nicht entziffern konnte.
    »Ich lese keine Traktate, Sir«, sagte er. »Schon gar nicht auf Deutsch.«
    »Das ist kein Traktat, Mr. Gowers«, erwiderte Miertsching, als sei er auf genau diese Antwort vorbereitet gewesen. »Es handelt sich um ein Gedächtnislehrbuch, das ich unter anderem beim Erlernen Ihrer Sprache benutzt habe.«
    »Mein Gedächtnis ist sehr gut, danke. Und Englisch kann ich bereits.«
    Miertsching lachte ein wenig gequält. »Englisch werden Sie damit auch kaum lernen!« Der Widerstand des jungen Menschen war noch immer größer, als er erwartet hatte oder sich erklären konnte. Hatte John Gowers etwas gegen ihn persönlich? Oder hasste er Gott? Letzteres lag so weit außerhalb seines Denkvermögens, dass Miertsching diesen jäh aufgetauchten Gedanken so rasch verwarf, wie man ein abgebrochenes Streichholz fallen lässt.
    »Ich übersetze Ihnen nur den Titel: Joseph Mailath, Mnemonik oder die Kunst, das Gedächtnis nach Regeln zu stärken und dessen Kraft außerordentlich zu erhöhen. Wien 1842. Glauben Sie nicht, dass man auch etwas sehr Gutes noch verbessern kann?!«
    »Mein Gedächtnis ist stark genug für mich, Sir!« John reckte den schweren Shakespeare in Quarto demonstrativ ein Stück höher und versenkte den Blick darin.
    »Ich denke nicht, dass Sie überhaupt wissen, was das Gedächtnis ist, Mr. Gowers«, sagte der Missionar angriffslustig, »oder sich darüber auch nur Gedanken machen wollen!«
    Zum ersten Mal, seit Miertsching im Unterdeck aufgetaucht war, sah ihn der Junge direkt an, überlegte kurz und sagte dann seltsam