Das blaue Siegel
Mannes deutlich zwischen angelesenen und echten Erinnerungen unterscheiden zu können. Beides reichte sehr weit zurück, und die vier Mysore-Kriege am Ende des 18. Jahrhunderts, wenn nicht gar die Zeiten Robert Clives, als die Briten noch nicht die Herren von Bengalen waren, musste der Mann zumindest als Kind miterlebt haben. Er hatte auch zweifellos den ganzen Subkontinent durchwandert, denn die Wegzeichen, die er nannte, erinnerten Gowers an seine Zeit auf dem Mississippi und die Art, wie die Lotsen untereinander redeten. Die verkrüppelten Bäume, Abbruchkanten kleiner Erdrutsche, die Findlinge, an denen das Moos nur bis zu einer bestimmten Stelle wuchs – das waren Orientierungshilfen, die in keinem Buch standen; die musste er selbst gesehen haben.
Auch die zahllosen Fürsten- und Adelshäuser der Länder, die er bereist hatte, ihre Verwandtschaftsbeziehungen, Kriege, Taten, Lieder, kamen dem alten Mann so flüssig über die Lippen wie einem keltischen Sänger, einem der lebenden Geschichtsbücher des frühen europäischen Mittelalters. Diese Geschichten hörte der Investigator nicht ungern, denn es stellten sich immer wieder Bezüge zur Moguldynastie her, deren Ende er ja zu untersuchen hatte. Lästiger waren die großen, mystischen Zusammenhänge zwischen Mensch und Universum, die seinen Begleiter und Führer so sehr faszinierten, dass er nicht aufhören konnte, darüber zu reden.
»Indien ist die Vulva der Welt, John Gowers. Sehen Sie sich nur seine Form an, auf den Karten der Engländer. Und es entspringen zwei Flüsse jenseits der hohen Berge Dhaulaghiri, Annapurna und Himalchuli, so hoch, dass die Vögel sie nicht überfliegen können. Die Quellen der beiden Flüsse berühren sich fast. Aber der eine fließt weit in den Sonnenuntergang, wendet sich erst nahe Persien nach Süden und wird der große Indusstrom, der ins Arabische Meer mündet. Der andere fließt nach Osten, beinahe ein Leben lang, bis auch er in breiten Wasserfällen aus den Bergen hervortritt und der mächtige Brahmaputra wird, der sich in den Golf von Bengalen ergießt. So wird Indien von Flüssen umfangen. Sie sind die Eierstöcke der großen Vulva, die die Menschheit geboren hat.«
Gowers kannte nicht nur die britischen Landkarten, sondern auch die weibliche Anatomie gut genug, um zu wissen, dass dieser sehr philosophische Vergleich stark hinkte. Aber vielleicht hatte der alte Mann seit hundert Jahren keine unbekleidete Frau mehr gesehen, wie so viele abendländische Philosophen auch. Und streiten wollte er sich über derart profane Dinge nicht mit ihm. Immerhin erfuhr der Investigator, nachdem sie die berühmte Schiffsbrücke von Kanpur überquert hatten und am Nordufer der großen Ganga aufwärtswanderten, ja immer mehr über das Sein und Werden Indiens in den letzten zweieinhalb Jahrhunderten. Und je mehr er erfuhr, desto weniger nackt erschien ihm der alte Mann.
82.
Die Lynchmorde im Uttar Pradesh hatten die Menschen schließlich stärker erschüttert als das Verschwinden der Kinder und das Gerede von fliegenden Dämonen. Zu der Angst, die sie vor dem Unbekannten empfanden, kam jetzt noch das Entsetzen über sich selbst. Wozu waren sie fähig?!, fragten sich die Bauern angesichts der entstellten Leichen der Fremden, der Außenseiter. Nicht lange mehr, und sie würden übereinander herfallen, die Jungen über die Alten, die Verheirateten über die Unverheirateten, Familie gegen Familie, ja, Frauen würden ihre Männer zerreißen in der wahnsinnigen Angst, die Raksha , die Dämonin, nun schon seit Jahren auslöste.
Die Hütten, die Dörfer wurden jetzt bereits durch frischgeschlagene Palisaden oder auch Dornenhecken befestigt, die Männer bewaffneten sich und wachten die Nächte hindurch vor den Toren. Müde, gereizt, würde bald ein Funke, eine falsche Verdächtigung ausreichen, um den Nachbarn zu schlachten, und ein Krieg aller gegen alle würde beginnen. Die jungen indischen Polizisten, die man von Lakhnau aus über die Dörfer schickte, würden es nicht verhindern können, die Autorität sich als unfähig und deshalb als überflüssig erweisen. Ein neuer Aufstand könnte losbrechen.
Tatsächlich benutzten seit Kurzem Agitatoren des freien Indien das Grauen der Nacht und fragten die Bauern, wo die britischen Steuereintreiber jetzt seien? Und warum man überhaupt Steuern zahle? Woraufhin von der Obrigkeit das Gerücht, die Frage ausgestreut wurde, ob nicht sie, die Feinde Englands, die Kinder jagten, töteten, um den
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