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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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Hass des Volkes zu schüren. Das Ganze wurde mehr und mehr ausweglos. Nur die Kinder verschwanden weiterhin.
    Selbstverständlich opferte man fleißig den verschiedenen Göttern, flehte um ihren Schutz, fragte Hexen und Zauberkünstler um Rat, aber vergeblich. Bis eines Tages ein Sadhu in ein kleines Dorf namens Asiwan kam, nur zwanzig Meilen westlich von Lakhnau; reich geworden vor allem, weil es an der Kreuzung zweier größerer Handelswege lag. Hier hatte der Schrecken nur zwei Wochen vorher zugeschlagen, und verzweifelte Frauen drängten sich um den heiligen Mann. Respektvoll, mit gesenkten Häuptern und aneinandergelegten Fingerspitzen, gaben die Frauen ihm mehr zu essen, als er brauchte, und baten ihn unter Tränen: »Hilf uns, Babu, sprich zu den Göttern, denn wir werden gestraft, und unsere Kinder sterben!«
    Der Heilige war ein Digambara , aber das war für die Frauen nichts Ungewöhnliches – außer, dass einige der keckeren jungen Mädchen sich mit Bedauern fragten, warum der Chela des Heiligen nicht ebenso nackt war. Dieser Schüler war ein noch junger Mann und sehr seltsam: ein Weißer anscheinend, man sah es an seinen Händen, der sein Gesicht, seinen Nacken mit Asche gefärbt hatte, dessen lederne Stiefel durchgeschwitzt waren und der eine blaue Brille trug. Das Seltsamste aber war, dass er es eilig zu haben schien – was unter Heiligen ganz und gar unüblich war – und auf seinen Meister einredete weiterzuziehen.
    Der Digambara ignorierte ihn jedoch, verbeugte sich höflich und fragte, was das Dorf bedrücke und welche Bitte er den Göttern übermitteln solle. Dann hörte er sich geduldig ihre lange Geschichte an: dass ein geflügelter Dämon oder ein als Bestie verkleideter Mann oder eine unbekannte blutrünstige Sekte Kinder raube und töte im ganzen Uttar Pradesh; von den Feldern, von den Türschwellen und bei Nacht sogar aus den Hütten.
    Ob er eine solche Hütte sehen könne, fragte der alte Mann. Sie führten ihn hin. Es wurde schon dunkel. Ob er darin übernachten könne, mit seinem Chela , um direkt am Ort des Verbrechens mit den Göttern zu sprechen. Er brauche dazu nur etwas Bangh , und niemand dürfe sich der Hütte nähern, auch die nicht, die darin wohnten. Hocherfreut, dass er sich ihrer Probleme annehmen würde, holte man ihm das beste Haschisch , das im Dorf vorhanden war, und ließ die beiden allein. Der Schüler war immer noch ärgerlich über diese unerwartete Unterbrechung ihrer Reise.
    »Sie haben eine Pfeife?!«, fragte Coryate.
    »Wozu in des Teufels drei Namen wollen Sie die?«, erwiderte der Investigator.
     

83.
     
    Simonides von Keos war kein Sänger der alten Schule, kein Mann, der mit seiner Kunst die Götter pries und ihre Geschichten erzählte, um seine Zuhörer zu läutern oder sie das Fürchten zu lehren. Simonides von Keos sang für Geld und über Menschen. Seine Auftraggeber zahlten indes nur für schöne Worte, nicht für Wahrheiten über sich selbst.
    So kam es, dass Skopas, ein Faustkämpfer, der zum zweiten Mal in Olympia das Pankration gewonnen hatte, jenen fürchterlichen antiken Allkampf, der mehr zerbrochene Kiefer und Gelenke verursachte als jede andere Art von Auseinandersetzung, die nicht Krieg hieß, unzufrieden mit Simonides war. Der Sänger hatte sein Lob gesungen, jawohl, seine Kraft, sein Geschick gepriesen, seine Kämpfe so anschaulich beschrieben, dass er selbst wieder die Knochen seiner Gegner knacken hörte.
    Dann aber hatte Simonides – wie er sagte, zur Erhöhung der Poesie seines Liedes – die vielen Siege des Skopas nicht allein auf das harte Training und die jahrelangen fleischlichen Entsagungen zurückgeführt, für die der zu Reichtum gekommene Olympiasieger sich nun bei immer neuen Gelagen schadlos hielt, sondern das Erringen des Lorbeers auch auf die Gunst der Götter zurückgeführt: Kastor und Pollux, die Schutzherren der Faustkämpfer.
    Derart bloßgestellt vor seinen Freunden, die mit bissigen Bemerkungen über sein »Glück« nicht sparten, hatte der antike Boxer dem antiken Sänger nur die Hälfte des vereinbarten Honorars gezahlt und höhnisch und vielbelacht hinzugefügt, die andere Hälfte solle er doch bei den so hochgelobten Göttern einfordern. Ehe er sich noch mit wohlgesetzten Worten zur Wehr setzen konnte – und wie anders sollte sich ein Dichter gegen einen Boxweltmeister wehren? –, wurde Simonides aus dem Haus gerufen: Zwei unbekannte Jünglinge begehrten, ihn auf der Straße zu sprechen.
    Unter dem

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