Das blaue Siegel
Expedition völlig fehl am Platze war. Die wenigen Eskimos, die man getroffen hatte, hatten nichts von Franklin gewusst, und obwohl natürlich auch das ein Ergebnis war, kam Miertsching sich immer noch gelegentlich überflüssig vor. Als Einziger hatte er keine klar umrissene Aufgabe an Bord, und seit sein Englisch leidlich war, auch nicht mehr die persönliche Ausrede, sich für kommende Aufgaben rüsten zu müssen. Aber diesmal beschäftigte ihn offenbar etwas anderes.
»Es geht um den Matrosen Gowers, Sir.«
McClure seufzte kaum hörbar. »Hat er sich noch immer nicht bei Ihnen bedankt?«
John hatte es für selbstverständlich gehalten, dass irgendjemand den Bären erschossen und ihm das Leben gerettet hatte, ja, er ärgerte sich anscheinend gewaltig darüber, dass es ausgerechnet der Missionar gewesen war. Miertsching wiederum hatte durchblicken lassen, dass er ein solches Verhalten ungehörig fand, und sogar eine Sonntagspredigt über das Thema Dankbarkeit gehalten – die der Junge allerdings nicht gehört hatte, da er den Bordgottesdienst ohnehin nie besuchte.
»Es geht um seine Lektüre, Sir. Er liest schlechte Bücher!«
McClure verkniff sich ein Grinsen. Tatsächlich fraß sich John durch die kleine Bordbibliothek in der Kabine des Kapitäns wie ein Wahnsinniger, seit seine Verwundung ihn unter Deck festhielt. »Oh, Sie finden Shakespeare schlecht, Mr. Miertsching?« Unwillkürlich starrte er auf die klaffende Lücke, die ein fehlender Band in Quarto auf dem Bücherbord über seinem Schreibtisch hinterlassen hatte, seit er die meiste Zeit in oder unter Johns Hängematte lag.
»Nein, Sir, ich meine das andere Buch … Diese Geschichten!« Die Affäre um die Canterbury Tales , mit der John im Winter die Erfolge seiner missionarischen Tätigkeit an Bord gleich wieder ad absurdum geführt hatte, hing Miertsching offenbar noch unvergeben nach. »Können Sie es ihm nicht wegnehmen?«
McClure sah den Mann merkwürdig kalt an. »Ich kenne diesen Jungen besser als jeden anderen Mann an Bord, Mr. Miertsching. Und ich denke, ich stehe ihm näher als irgendein Mensch auf der Welt. Aber wenn ich ihm dieses Buch wegnehmen würde, müsste ich ihn in Ketten legen, bis wir wieder in England sind.«
»Warum, Sir? Was könnte er denn dagegen tun?«
»Er würde mich töten, Mr. Miertsching«, antwortete der Kapitän ruhig. »Und er würde Sie töten, wenn er wüsste, dass Sie mir diesen Vorschlag machen.«
»Aber es ist nicht gut für ihn!« Diese Herrnhuter Missionare waren hartnäckig wie Holzböcke. Einzig durch diese Eigenschaft hatte sich die Gemeinde der Böhmischen Brüder, so etwas wie die Jesuiten der reformierten Kirchen, durch die Jahrhunderte und über mehrere blutige Religionskriege hinweg erhalten.
»Ich bin kein Zensor, Mr. Miertsching«, sagte McClure achselzuckend. Dennoch widerstrebte es ihm, den Mann, den er stets und eben auch in seinem religiösen Eifer als aufrichtig kennengelernt hatte, mit diesem unbefriedigenden Ergebnis wegzuschicken.
Tatsächlich war Miertsching der einzige Mann an Bord, mit dem der Kapitän reden konnte, ohne die Rücksichten zu nehmen und die Rücksichtslosigkeiten zu begehen, die seine Pflicht als verantwortlicher Kommandeur mit sich brachte. Als höchste bekannte und erreichbare Autorität im Umkreis von zweitausend Meilen war McClure eine Art absoluter Herrscher – ohne für diese Aufgabe geboren oder ausgebildet zu sein. Im Herzen vielmehr noch immer der iroschottische Waisenjunge, fühlte er die Einsamkeit der Könige bisweilen schwerer, als ihm lieb war. Diese bedrückende Isolation konnte er nur durch gelegentliche Gespräche mit der einzigen Person durchbrechen, bei der seine Autorität nicht auf dem Spiel stand. Bei Shakespeare war das der Narr; für McClure der Dolmetscher.
Miertsching stand außerhalb der Hierarchie, deshalb brauchte der Kapitän ihm auch keine Befehle zu geben, sondern konnte ihm Vorschläge machen. »Ich kenne diesen Burschen, wie gesagt. Mit Verboten wecken Sie nur seinen Widerspruch. Aber geben Sie ihm doch einfach etwas anderes zu lesen, vielleicht beißt er ja an!«
Von oben wurde in diesem Moment schweres Eis voraus gemeldet, und sofort erhob sich der Kapitän mit der ständigen Wachsamkeit, die auch ein Tier selbst im Schlaf nicht verlässt. Wie schon so oft schämte sich der Missionar bei diesem Anblick der Relativität seiner Probleme und sagte: »Entschuldigung, Sir. Aber es ist schwer, einem Menschen das Leben zu retten und
Weitere Kostenlose Bücher