Das blaue Siegel
Hohngelächter der betrunkenen Gäste verließ er zornig die Halle, die ganze lange Festtafel hinunter verfolgt von grinsenden Gesichtern und Spottworten; bis zu den Sklaven in der Vorhalle des riesigen Gebäudes hatte sich herumgesprochen, wie schlagfertig der Boxer den Sänger geprellt hatte, höhnische Fratzen auch hier! Simonides kochte vor Wut. Aber kaum hatte er die Schwelle überschritten, die Straße überquert und begonnen, sich nach den beiden Jünglingen umzusehen – als Kastor und Pollux das Haus des Skopas zum Einsturz brachten.
Schwere marmorne Säulen, Deckenfriese, von Zyklopen gemauerte Wände, Tonnen von Stein zerquetschten den vorwitzigen Olympiasieger, seine Diener und Gäste bis zur Unkenntlichkeit, zu einer Art Menschenbrei längs der Tafel, deren schweres Eichenholz als einziges wiedererkennbares Möbel aus dem Schutt gegraben wurde. Wie viele Tote es gab und welche Körperteile zu wem gehörten und von welchen Familien zu begraben und zu betrauern waren – nur der einzige Überlebende, Simonides, konnte es sagen.
Leider hatte er in seinem gerechten Zorn nicht bewusst darauf geachtet, wer wo saß; aber jetzt ging er tagelang diesen letzten Weg, holte sich die Bilder, die ihm Wut und Beschämung tief eingeprägt hatten, vor sein inneres Auge und konnte schließlich bis zum letzten Sklaven sagen, wer wo gesessen, gearbeitet, an welcher Säule gelehnt hatte. So lernte er, dass das Gedächtnis aus Bildern besteht, die man in bestimmter Reihenfolge an bestimmten Orten finden kann, und benutzte dieses Prinzip von da an bei seinen Liedern, konnte schließlich ganze Epen auf diese Weise aus dem Kopf hersingen und galt noch in seinem achtzigsten Jahr als Wunder an menschlicher Gedächtniskraft.
Den einfachen Trick – Bilder an Orten – gab er an seine Schüler weiter, die ihn ihrerseits lehrten und immer weiter lehrten, bis diese Geschichte nach fünf Jahrhunderten auf Marcus Tullius Cicero kam. Der fügte der Halle des Skopas noch weitere Räume hinzu, ein ganzes Gedankengebäude, voller weißer Wände für die Gedächtnisbilder seines Orators . Ciceros Redekunst überdauerte die Antike, wurde wiedergefunden im Staub der dunklen Jahrhunderte, in denen die Goten, Vandalen und Merowinger nur wenig Erinnernswertes hinterlassen hatten.
Und weil man mit seinem System auch die höhere Ehre Gottes auswendig singen konnte, schrieben noch mittelalterliche Mönche und Renaissancegelehrte die Geschichte des Sängers – und des Boxers! – ab und auf. Natürlich konnte sich dabei keiner von ihnen eigener Kommentare, Veränderungen, Verbesserungen enthalten; und so wurden, je nach Zeitgeschmack, die Gedächtnisräume und Orte zu Gedächtnisstädten, Gedächtnisbäumen, Ableitungsketten, Rosenkränzen, Grundrissen, Segmenten auf drehbaren Scheiben.
Diese lange Geschichte erzählte Joseph Mailath aus Wien dem Herrnhuter Missionar und der Missionar nach und nach dem Schiffsjungen, der es dann einfach probierte: Shakespeares Königsdramen hatte er sich nie merken können. Zu viele Heinriche, die sich trotz ihrer Nummerierung durch die Verse knäuelten, vorher auch noch Bolingbroke hießen, viele bucklige Brüder und andere Verwandte hatten, die sich gegenseitig ermorden ließen, während eine bunte Schar Nebenfiguren sich betrank und Lieder auf Nichtanwesende sang. Er versuchte es zunächst mit den Figuren, setzte sie an die Tafel des Skopas, um das Ganze bei Bedarf wieder zerschmettern zu können, hatte aber schon nach zwei Tagen ein ganzes Gebäude, zehn verschiedene Hallen gefüllt und rannte von einem zum anderen, um sie besser kennenzulernen.
Von sich aus und ehe ihm Miertsching die entsprechenden Vorbilder übersetzte, veränderte John seine Gedächtnisorte; Heinrich IV., V. und VI. wurden in seinem Kopf zu den Masten eines Schiffes, die einzelnen Figuren wurden zu Seeleuten auf den Rahen und Spieren, die einander Verse wie Tauenden zuwarfen, Segel setzten und refften, wie es dem Meister aus Stratford gefiel, der der Wind war und dem Schiff seine Richtung gab.
Und zum ersten Mal fühlte der Junge sich mitgenommen, so sehr kamen die Gedächtnissysteme seinem ohnehin schon bemerkenswert guten Erinnerungsvermögen entgegen. Das Chaos sortierte sich, nahm überschaubare Formen an, die er je nach Bedarf zusammensetzen und auseinanderbrechen konnte. Wohin ihn das führen würde und was er Sinnvolles damit tun könnte, ahnte er nicht. Nur sein bisheriges Leben kam ihm so ungeordnet vor wie ein
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