Das blaue Zimmer
besah sie mit Kennerblick, so wie Tom sie zu begut achten pflegte. Sie war riesenhaft; das lange, weiche Vlies ließ den Leib noch massiger wirken.
„Kriegst du heute deine Zwillinge?“ fragte er sie.
Wenn Daisy auch Zwillinge kriegt, hatte Mr. Sawcombe erst vorige Tage gesagt, bekommen wir eine Lammung von zweihundert Prozent, Toby. Zweihundert Prozent. Das ist das Beste, was ein Schafzüchter verlangen kann. Es würde mich freuen. Für Mrs. Sawcombe würde es mich freuen.
Es war unvorstellbar, daß er nie mehr mit Mr. Sawcombe sprechen würde. Unvorstellbar, daß er tot war, daß er einfach nicht da war. Viele Menschen waren gestorben, aber noch kei ner, der Toby so nahestand wie Mr. Sawcombe. Tobys Groß vater war gestorben, doch das war schon so lange her, daß Toby sich nicht mal mehr an ihn erinnern konnte. Er kannte nur die Fotografie am Bett der Großmutter und die Geschich ten, die Granny ihm erzählt hatte. Nach dem Tod seines Groß vaters war Granny in dem alten, leeren Haus wohnen geblie ben, bis ihr die Arbeit zuviel wurde. Darauf hatte Tobys Vater den hinteren Flügel seines Hauses zu einer Wohnung für Granny umgebaut, und nun wohnte Granny bei den Hardings. Und doch nicht bei ihnen, denn es war eine separate Wohnung. Granny hatte ihre eigene Küche und ihr eigenes Bad, sie kochte sich ihr Essen selbst, und man mußte an die Tür klopfen, bevor man sie besuchen durfte. Tobys Mutter sagte, es sei wichtig, stets anzuklopfen, denn unangekündigt bei Granny hereinzu platzen sei eine Verletzung ihrer Privatsphäre.
Toby verließ Daisy und ging tief in Gedanken versunken ins Dorf. Er kannte noch mehr Leute, die gestorben waren. Als Mrs. Fletcher starb, die den Dorfladen und das Postamt be trieb, hatte Tobys Mutter einen schwarzen Hut aufgesetzt und war zu Mrs. Fletchers Beerdigung gegangen. Aber Mrs. Flet cher war keine Freundin gewesen. Toby hatte sich vielmehr vor ihr gefürchtet. Sie war so alt, so häßlich; wie eine große schwarze Spinne hatte sie dagehockt und Briefmarken ver kauft. Nach Mrs. Fletchers Tod hatte ihre Tochter Olive den Laden übernommen, doch bis an ihr Ende war Mrs. Fletcher dort gewesen, hatte finsteren Blicks mit ihrem Gebiß ge schmatzt, Strümpfe gestrickt und mit den kleinen, glänzenden Augen alles beobachtet, was vorging. Nein, er hatte Mrs. Flet cher nicht geliebt. Aber Mr. Sawcombe vermißte er schon jetzt.
Er dachte an David. Geh doch mit David spielen, hatte seine Mutter vorgeschlagen, aber Toby war überhaupt nicht da nach, Astronaut zu spielen oder in dem schlammigen Fluß, der am Ende des Gartens hinter der Kneipe floß, nach Fischen zu sehen. Er wollte lieber einen anderen Freund besuchen, Willie Harrell, den Dorftischler. Willie war ein sanfter Mensch, der gemächlich sprach und altmodische Latzhosen und eine un förmige Tweedmütze trug. Toby hatte sich mit ihm angefreun det, als Willie ins Haus kam, um neue Küchenschränke einzu bauen, und seither gehörte es an müßigen Ferienvormittagen zu seinen Lieblingsbeschäftigungen, ins Dorf zu spazieren und in Willies Werkstatt ein paar Worte mit ihm zu wechseln.
Die Werkstatt war ein magischer Ort, der süßlich roch und mit Hobelspänen übersät war. Hier schreinerte Willie Hofgat ter und Scheunentore, Fensterrahmen, Deckenträger und Bal ken. Und hier fertigte Willie von Zeit zu Zeit auch Särge, denn er war nicht nur der Tischler, sondern auch der Bestattungs unternehmer des Dorfes. In dieser Rolle wurde er ein vollkommen anderer Mensch, mit Melone und schwarzem Anzug, und dann nahm er eine gedämpfte, respektvolle Stimme und eine fromme, betrübte Miene an.
Die Tür seiner Werkstatt stand heute morgen offen. Sein kleiner Lieferwagen parkte in dem vollgestellten Hof. Toby ging zur Tür und steckte den Kopf hinein. Willie lehnte an sei ner Werkbank und trank eine Tasse Tee aus einer Thermos kanne.
„Willie?“
Er sah auf. „Hallo, Toby.“ Er lächelte. „Na, was gibt’s?“
„Ich dachte, ich komm einfach mal vorbei.“ Ob Willie von Mr. Sawcombe wußte? Er ging zu Willie hinüber, lehnte sich neben ihn an die Werkbank, nahm einen Schraubenzieher und fummelte damit herum.
„Nichts zu tun?“
„Nicht viel.“
„Vor einer Minute hab ich David auf seinem Fahrrad gese hen, mit ‘nem Cowboyhut auf. Macht nicht viel Spaß, ganz allein Cowboy zu spielen.“
„Hab keine Lust zum Cowboyspielen.“
„Ich hab heute keine Zeit, mich mit dir zu unterhalten. Hab zu tun. Muß nach elf zu
Weitere Kostenlose Bücher