Das blaue Zimmer
deswegen gekommen waren. „Ruhig, Mädchen, ganz ruhig.“ Tom strich mit einer Hand über das dicke, regennasse Fell auf ihrem Rücken.
Toby sah zu. Er hatte Herzklopfen, nicht so sehr vor Sorge als vor Aufregung. Er hatte keine Angst, denn Tom war ja da, ebenso wie er nie vor etwas Angst gehabt hatte, wenn Mr. Saw combe neben ihm stand.
„Aber Tom, wenn sie noch ein Lamm im Bauch hat, warum ist es dann nicht herausgekommen?“
„Vielleicht ist es ein großer Bursche. Vielleicht hat es sich nicht in die richtige Lage gebracht.“ Tom sah zum Haus hin über, und Toby folgte seinem Blick. Vicky kam mit ihren lan gen Storchenbeinen und ihren pitschnassen Haaren zu ihnen, ein überschwappender Eimer zog sie mit seinem Gewicht zur Seite. Als sie bei ihnen angelangt war und den Eimer abgestellt hatte, sagte Tom: „Gut gemacht, Mädchen. Jetzt hältst du sie, Vicky. Fest und doch sachte. Sie wird sich nicht wehren. Krall dich ruhig mit den Fingern in ihr Fell. Und Toby, du nimmst ihre Hörner und sprichst auf sie ein. Beruhigend. Dann weiß sie, daß sie in guten Händen ist.“
Vicky schien drauf und dran, in Tränen auszubrechen. Sie kniete sich in den Schlamm, legte die Arme um Daisy und drückte ihre Wange an Daisys weiche Wolle. „Oh, arme Daisy. Du mußt ganz tapfer sein. Alles wird gut.“
Tom zog sich aus. Jacke, Hemd, das weiße T-Shirt. Nackt bis zur Taille, seifte er sich Hände und Arme ein.
„So“, sagte er. „Jetzt wollen wir mal sehen, was da los ist.“
Toby klammerte sich an Daisys Hörner und hätte am lieb sten die Augen zugemacht. Aber er tat es nicht. Sprich auf sie ein, hatte Tom gesagt. Beruhigend. „Ruhig, ruhig“, sagte Toby zu Daisy, weil er Tom das zu ihr hatte sagen hören und ihm nichts anderes einfiel. „Ruhig, ruhig, Daisy, Schätzchen.“ Dies war eine Geburt. Das ewige Wunder, hatte Mr. Saw combe es genannt. Dies war der Beginn des Lebens, und er, Toby, half dabei.
Er hörte Tom sprechen. „Weiter so. Weiter so… keine Bange, altes Mädchen.“
Daisy gab aus Unbehagen und Unmut ein einziges Stöhnen von sich, und dann sagte Tom: „Da ist er! Ein Pfundskerl, und er lebt.“
Und da war es, das kleine Geschöpf, das die ganze Mühe ver ursacht hatte. Ein weißer Widder mit schwarzen Flecken. Blut beschmiert lag er auf der Seite, aber es war ein kräftiges, gesun des Lamm. Toby ließ Daisys Hörner los, und Vicky lockerte ihren Griff. Erleichtert machte sich Daisy an die Begutachtung des Neuankömmlings. Sie stieß einen leisen, mütterlichen Laut aus und beugte sich, um das Neugeborene zu lecken. Nach einer kleinen Weile stupste sie es sachte mit ihrer Nase, und es dauerte nicht lange, da rührte es sich, hob den Kopf und kam erstaunlicherweise wackelnd auf seine langen, unsiche ren Beine. Sie leckte es abermals, erkannte es als ihres und nahm es liebevoll und fürsorglich in ihre Obhut. Das Lämm chen machte ein, zwei torkelnde Schritte und fing alsbald, von seiner Mutter ein wenig ermuntert, zu saugen an.
Noch lange nachdem Tom sich mit seinem Hemd abgetrock net und seine Sachen angezogen hatte, blieben sie da, ohne auf den Regen zu achten, und sahen Daisy und ihren Zwillingen zu, gefesselt von dem Wunder, zufrieden mit sich und ihrer ver eint vollbrachten Leistung. Vicky und Toby saßen nebenein ander unter der alten Waldkiefer auf der Erde, und Vicky hatte ein Lächeln im Gesicht, wie Tom es seit einer Ewigkeit nicht gesehen hatte.
Sie sah Tom an. „Woher wußtest du, daß da noch ein Lamm war?“
„Sie war immer noch sehr unförmig, und sie schien sich nicht besonders wohl zu fühlen. Sie war unruhig.“
Toby sagte: „Mrs. Sawcombe hat eine zweihundertprozen tige Lammung erzielt.“
Tom lächelte. „Das stimmt, Toby.“
„Aber warum ist das Lamm nicht von allein gekommen?“
„Schau es dir nur an! Ein großer Bursche mit einem großen Kopf. Aber jetzt geht es ihm gut.“ Dann sah er auf Vicky hinunter. „Aber dir wird es nicht gutgehen, wenn du noch länger hier im Regen sitzen bleibst. Du holst dir einen Schnupfen, deine Haare sind ja ganz naß.“ Er bückte sich nach dem Eimer, dann reichte er Vicky seine andere Hand. „Komm jetzt.“
Sie nahm seine Hand, und er zog sie auf die Beine. Da stan den sie und lächelten sich an.
Er sagte: „Gut, daß wir miteinander reden.“
„Ja“, sagte Vicky. „Verzeih.“
„Es war genauso meine Schuld.“
Vicky blickte schüchtern drein. Sie lächelte wieder, weh mütig, ein Lächeln, das die
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